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Der Botschafter

Der Botschafter

Titel: Der Botschafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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trotzdem abbiegen sollte, aber Ruhe und Besonnenheit auf der Flucht hatten sich bisher immer bewährt, und er beschloß, auch diesmal nicht überstürzt zu handeln.
    Er trat auf die Bremse und kam zum Stehen.
    Dann sah er auf seine Armbanduhr und zählte die Sekunden.
    Als Michael Osbourne über die Gartenmauer kletterte, hörte er am Ende der Gasse einen Mann lauthals fluchen. Im nächsten Augenblick heulte ein Motor auf, und ein Auto fuhr mit quietschenden Reifen davon. Den Geräuschen nach vermutete Michael, war der Fahrer zur M Street unterwegs. Und er vermutete auch, daß der Fahrer Oktober war, der zu flüchten versuchte. Er spurtete die Thirtythird Street entlang, bog an der M Street rechts ab und lief weiter.
    Delaroche entdeckte Osbourne, der mit einer Pistole in der Hand die M Street entlangrannte und erschrockene Passanten auseinandertrieb. Delaroche drehte langsam den Kopf, sah wieder nach vorn und wartete darauf, daß die Ampel auf Grün umsprang.
    Seine Beretta lag auf dem Beifahrersitz. Delaroche umfaßte sie mit der rechten Hand und legte seinen Zeigefinger an den Abzug. Vielleicht bekomme ich doch noch eine Chance, den Auftrag auszuführen, dachte er.
    Osbourne erreichte die Kreuzung. Er stand mit der Waffe in der Hand direkt vor dem Saab auf dem Fußgängerübergang und starrte die Thirtyfourth Street hinunter. Er atmete schwer und suchte seine Umgebung mit hastigen Blicken ab.
    Delaroche nahm langsam die Beretta vom Beifahrersitz und legte sie auf seinen Schoß. Er überlegte, ob er durch die Windschutzscheibe schießen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, Osbourne zu treffen, wäre sein Fluchtfahrzeug dann beschädigt gewesen. Er streckte die linke Hand aus, drückte auf eine Taste in der Armlehne und ließ das Fahrerfenster herunter, als die Ampel auf Grün umsprang.
    Hinter ihm standen mehrere Wagen, deren Fahrer jetzt hupten, weil sie nicht sahen, daß mitten auf der Kreuzung ein Mann mit einer Pistole stand.
    Delaroche blieb unbeweglich sitzen und wartete darauf, daß Osbourne die Initiative ergriff.
    Michael stand nach Atem ringend und mit jagendem Herzen auf der Kreuzung, ohne auf die Kakophonie aus Autohupen zu achten. Er musterte die Gesichter in den wartenden Autos: ein Mann Anfang vierzig in einem silbergrauen Saab, zwei reiche Studenten in einem roten BMW, ein Patrizierehepaar aus Georgetown in einem nagelnden Mercedes Diesel und ein Pizza-Hut-Ausfahrer.
    Alle hupten, nur der Mann am Steuer des Saabs nicht.
    Michael musterte ihn prüfend. Der Mann war ziemlich häßlich: schwere Hängebacken, quadratisches Kinn, breite, flache Nase.
    Dieses Gesicht kannte Michael von irgendwoher, aber ihm fiel nicht ein, wo er es gesehen hatte. Er starrte den Mann an, während vor seinem inneren Auge die Gesichter aus seiner Vergangenheit wie auf einem Bildschirm auftauchten - manche scharf und klar, manche unscharf und verschwommen. Dann wußte er plötzlich, wo er dieses Gesicht gesehen hatte: auf Morton Dünnes Computerbildschirm im OTS.
    Michael zielte auf Oktobers Gesicht.
    »Aussteigen! Sofort!«

39 
    WASHINGTON

    Die riesige Kreuzung vor der Zufahrt zur Key Bridge ist eine der belebtesten und chaotischsten in ganz Washington.
    Autoströme von der turmhoch aufragenden Brücke, der M Street und dem Whitehurst Freeway treffen an diesem einen Punkt zusammen. Im morgendlichen und abendlichen Berufsverkehr stehen auf dieser Kreuzung die Pendler im Stau; nachts sorgen Autofahrer, die in die Restaurants und Nachtclubs von Georgetown unterwegs sind, für regen Verkehr. Über allem steht die durch Der Exorzist berühmtberüchtigt gewordene schwarze Steintreppe - trostlos, mit Graffiti bedeckt und nach Urin stinkend, weil betrunkene Studenten aus Georgetown es für einen alten Brauch halten, dort im Vorbeigehen zu pinkeln.
    Aber daran dachte Delaroche nicht, als er am Steuer des Saabs sitzend in die Mündung von Michael Osbournes Browning starrte. Als Osbourne ihm auszusteigen befahl, trat Delaroche das Gaspedal durch und warf sich nach rechts auf den Beifahrersitz.
    Michael gab mehrere Schüsse auf die Windschutzscheibe ab, als der Wagen mit aufheulendem Motor auf ihn zuraste; dann brachte er sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit.
    Delaroche setzte sich hinters Steuer, bekam den Wagen wieder unter Kontrolle und raste in Richtung Key Bridge davon.
    Michael wälzte sich beiseite, um nicht von dem Auto erfaßt zu werden, und richtete sich auf einem Knie auf.

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