Der Botschafter
Stadtzentrum.
Die Belfaster Innenstadt ist ein Ort ohne jeden Charme - kalt und ordentlich, an manchen Stellen zu neu, an anderen wieder zu alt. Die IRA hat unzählige Bombenanschläge hier auf sie verübt - allein am 21. Juli 1972, dem Blutigen Freitag, insgesamt zweiundzwanzig. Nordirland war das einzige Land der Welt, in dem Michael sich nicht wohl fühlte. Die hiesige Gewalt hatte eine bösartige, eine willkürliche und mittelalterliche Qualität, die ihm unheimlich war. Und Belfast gehörte zu den wenigen Großstädten, in denen er Schwierigkeiten hatte, sich zu verständigen. Er sprach gut Italienisch, Französisch, Spanisch und Arabisch, ziemlich gut Hebräisch und brauchbar Deutsch und Griechisch, aber das in West Belfast gesprochene scharf akzentuierte Englisch stellte ihn ständig vor neue Rätsel. Und das Gälische, das viele Katholiken fließend beherrschten, würde ihm ewig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Trotzdem waren die Menschen hier bemerkenswert freundlich, vor allem zu Fremden, luden einen rasch zu einem Drink ein, boten einem eine Zigarette an und hatten einen ausgeprägt schwarzen Humor, der eine Folge der Tatsache war, daß sie in einer verrückt gewordenen Welt lebten.
Michael trug sich im Hotel Europa ins Gästebuch ein und verbrachte dann zehn Minuten damit, sein Zimmer nach Wanzen abzusuchen. Er machte ein Nickerchen, aus dem er durch eine Sirene und eine Lautsprecherstimme gerissen wurde, die ihn aufforderte, das Hotel sofort zu verlassen. Als er unten beim Empfang anrief, erklärte eine junge Frau ihm fröhlich, das sei nur ein Probealarm. Michael ließ sich vom Zimmerservice Kaffee bringen, duschte, zog sich an und fuhr nach unten. Beim Portier hatte er einen Mietwagen bestellt. Das Auto, ein leuchtend roter Ford Escort, stand in der halbkreisförmigen Einfahrt bereit. Michael ging ins Hotel zurück und fragte den Portier, ob der Autoverleih nicht ein etwas unauffälligeres Fahrzeug habe.
»Tut mir leid, das ist der einzige, der noch da war, Sir.«
Michael setzte sich ans Steuer und fuhr die Great Victoria Street entlang nach Norden. Er bog in eine Seitenstraße ein, parkte und stieg aus. Dann öffnete er die Motorhaube und riß an einigen Drähten, bis der Motor erstarb. Er knallte die Haube wieder zu, zog den Zündschlüssel ab und ging ins Europa zurück. Dort erklärte er dem Portier, der Escort sei mit einer Panne liegengeblieben, und erklärte ihm, wo er den Wagen finden würde.
Zwanzig Minuten später hatte er einen Ersatzwagen: einen dunkelblauen Vauxhall.
Kevin Maguire, Deckname Harbinger, hatte im Lauf der Jahre ein Dutzend verschiedener Verfahren für Treffs benützt, aber heute abend sollte wieder die ursprüngliche Methode gelten - drei über die Belfaster Innenstadt verteilte Treffpunkte, die in Abständen von einer Stunde aktiv waren. Beide Männer würden zum ersten Treff kommen. Merkte einer von ihnen, daß er beschattet wurde, oder fühlte sich aus irgendeinem Grund unbehaglich, würden sie's mit dem zweiten Treff versuchen.
Taugte auch der zweite nichts, war der dritte an der Reihe.
Klappte es dort ebenfalls nicht, gaben sie für diesen Abend auf, um es am nächsten Abend mit drei neuen Treffpunkten zu versuchen.
Michael fuhr zum ersten Treffpunkt am Donegall Quay in der Nähe der Queen Elizabeth Bridge über den River Lagan. Er kannte sich in Belfast gut aus und konzentrierte sich etwa zwanzig Minuten lang darauf, mögliche Beschatter zu entdecken. Dazu fuhr er kreuz und quer durch die Be lfaster Innenstadt und überprüfte, ob ihm jemand auf den Fersen blieb.
Danach fuhr er zum Donegall Quay, wo er Maguire zu treffen hoffte, aber als Maguire nirgends zu sehen war, fuhr er weiter, ohne zu halten. Es hatte einen Grund, wenn Maguire einen Treff nicht wahrnahm; er war ein erfahrener Terrorist, ganz sicher kein Neuling, der Gefahren witterte, wo es keine gab.
Kevin Maguire war als Sohn eines arbeitslosen Werftarbeiters und einer Näherin in Ballymurphy aufgewachsen. Nachts war er mit den anderen Jungs auf den Straßen unterwegs gewesen und hatte mit Steinen und Benzinbomben gegen die britische Armee und die RUC gekämpft. Einmal hatte er Michael ein Foto aus seiner Kindheit gezeigt: ein Gassenjunge mit Bürstenhaarschnitt, Lederjacke und einer Halskette aus leeren Patronenhülsen. In Ballymurphy war er eine Art Held gewesen, weil er sich darauf verstand, Schützenpanzerwagen mit leeren Bierfässern zum Umkippen zu bringen. Wie die meisten Katholiken in
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