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Der Botschafter

Der Botschafter

Titel: Der Botschafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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lassen, seit Michael ihn zuletzt gesehen hatte. Sein kurzgeschnittenes dunkles Haar war grau meliert, und er hatte Falten um die Augen. Und er trug jetzt eine Brille: eine für sein Gesicht deutlich zu kleine modische Nickelbrille mit runden Gläsern.
    »Wo hast du den Wagen her?« fragte Maguire.
    »Der Portier im Europa hat ihn mir besorgt. Ich habe beim ersten ein paar Kabel herausgezogen und zwanzig Minuten später diesen hier bekommen. Er ist clean.«
    »Ich rede nicht in Autos oder geschlossenen Räumen. Hast du alles vergessen, seit sie dich in die Zentrale zurückgeholt haben?«
    »Ich habe nichts vergessen. Wohin willst du?«
    »Wie war's mit dem Berg, zur Erinnerung an die gute alte Zeit? Halt mal dort vorn, damit ich uns ein paar Dosen Bier besorgen kann.«
    Michael fuhr durch Belfast nach Norden und folgte dann der schmalen Straße, die zum Black Mountain hinaufführte. Der Regen hatte aufgehört, als er an einer Ausweichstelle hielt und den Motor abstellte. Sie stiegen aus, setzten sich auf die Motorhaube, tranken warmes Bier und hörten den abkühlenden Motor knistern. Unter ihnen lag Belfast. Über der Stadt hingen Wolkenschleier, die an ein über eine Lampe geworfenes Seidentuch erinnerten. Belfast war nachts eine dunkle Großstadt.
    Im Stadtzentrum brannten gelbe Natriumdampflampen, aber West Belfast mit den Stadtteilen Falls, Shankill und Ardoyne war so düster, als sei dort Verdunklung angeordnet. Hier oben fühlte Maguire sich im allgemeinen wohl - wie die Hälfte aller Jungen in Ballymurphy hatte er hier seine Unschuld verloren -, aber an diesem Abend war er auffällig nervös. Er rauchte zuviel, trank sein Lager mit großen Schlucken und schwitzte, obwohl es kühl war.
    Maguire redete. Er erzählte Michael alte Geschichten. Er sprach darüber, wie es gewesen war, in Ballymurphy aufzuwachsen, gegen die Briten zu kämpfen und ihre »Pigs« in Brand zu setzen. Er erzählte Michael, wie er hier oben auf dem Black Mountain zum erstenmal ein Mädchen geliebt hatte. »Sie hat Catherine geheißen, ein katholisches Mädchen. Ich habe ein so schlechtes Gewissen gehabt, daß ich am nächsten Tag zur Beichte gegangen bin und bei Pater Seamus ausgepackt habe«, berichtete er. »Später habe ich noch oft bei Pater Seamus gebeichtet - immer wenn ich einen britischen Soldaten oder RUC-Mann erschossen oder im Stadtzentrum oder in London eine Bombe gelegt hatte.«
    Er erzählte Michael von einer Affäre, die er kurz vor seinem Eintritt in die IRA mit einem protestantischen Mädchen aus Shankill gehabt hatte. Obwohl sie schwanger geworden war, hatten die jeweiligen Eltern ihnen streng verboten, sich je wiederzusehen.
    »Wir haben gewußt, daß das die beste Lösung war«, sagte er jetzt. »In beiden Gemeinden wären wir Ausgestoßene gewesen.
    Wir hätten Nordirland verlassen und in England leben oder nach Amerika auswandern müssen. Sie hat das Baby, einen Jungen, bekommen. Ich habe den Kleinen nie gesehen.« Er machte eine Pause. »Weißt du, Michael, in Shankill habe ich niemals eine Bombe gelegt.«
    »Weil du Angst hattest, du könntest zufällig deinen eigenen Sohn umbringen.«
    »Ja, weil ich Angst hatte, ich könnte meinen eigenen Sohn umbringen - einen Sohn, den ich nie gesehen habe.« Er riß die nächste Bierdose auf. »Ich weiß wirklich nicht, was zum Teufel wir hier in den letzten dreißig Jahren gemacht haben. Ich weiß nicht, wofür das gut gewesen sein soll. Ich habe der IRA zwanzig Jahre meines Lebens geopfert, zwanzig Jahre für unsere gottverdammte Sache gekämpft. Jetzt bin ich fünfundvierzig.
    Ich habe keine Frau, keine richtige Familie. Und wofür? Für ein Abkommen, das wir seit neunundsechzig ein dutzendmal hätten erreichen können?«
    »Mehr ist für die IRA nicht herauszuholen gewesen«, stellte Michael fest. »Gegen einen Kompromiß ist schließlich nichts einzuwenden.«
    »Und jetzt hat Gerry Adams eine wunderbare Idee«, sagte Maguire, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Er will Falls in eine Touristenattraktion umwandeln. Ein paar Familien sollen ›Bed and Breakfast‹ anbieten. Kannst du dir das vorstellen?
    Kommt und besichtigt die Straßen, auf denen die Prods und die Micks sich drei Jahrzehnte lang einen häßlichen kleinen Bürgerkrieg geliefert haben. Jesus, ich hätte nie gedacht, daß ich das noch mal erleben würde! Dreitausend Tote, damit wir im Reiseteil der New York Times erwähnt werden?«
    Er trank sein zweites Bier aus und warf auch diese leere Dose den Hang

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