Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Botschafter

Der Botschafter

Titel: Der Botschafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
Vom Netzwerk:
früher Abend. Wahrscheinlich gab sie den Kindern ihr letztes Fläschchen, bevor sie zu Bett gebracht wurden. Einen Augenblick lang kam er sich wie ein Vollidiot vor, weil er sein idyllisches Leben mit Elizabeth gegen eine Entführung mit Mißhandlungen in Nordirland eingetauscht hatte. Aber das war ein defätistischer Gedanke, den er rasch verdrängte.
    Zum ersten Mal seit vielen Jahren dachte Michael wieder an seine Mutter. Das kam wahrscheinlich daher, daß zumindest ein Teil seines Ichs den Verdacht hegte, er würde Nordirland nicht mehr lebend verlassen. In seinen Erinnerungen spielte sie eher die Rolle einer ehemaligen Geliebten als die einer Mutter: Nachmittage in römischen Cafes, Spaziergänge an Mittelmeerstränden, Abendessen in griechischen Tavernen, ein Ausflug zur Akropolis bei Mondschein. Sein Vater war oft wochenlang unterwegs gewesen, ohne sich zwischendurch ein einziges Mal zu melden. Kam er dann heim, durfte er nicht erzählen, wo er gewesen war und was er gemacht hatte. Sie bestrafte ihn dafür, indem sie nur Italienisch sprach, das er nicht beherrschte. Und sie bestrafte ihn dafür, indem sie sich fremde Männer ins Bett holte - eine Tatsache, die sie Michael nie verheimlichte. Sie neckte ihn sogar, indem sie behauptete, sein wahrer Vater sei ein sizilianischer Großgrundbesitzer, was die Erklärung für Michaels dunklen Teint, sein fast schwarzes Haar und seine lange schmale Nase sei. Michael hatte nie herausbekommen, ob sie das nur im Scherz gesagt hatte. Das gemeinsam bewahrte Geheimnis ihrer Ehebrüche erzeugte eine mystische Bindung zwischen ihnen. Sie war an Brustkrebs gestorben, als Michael achtzehn war. Sein Vater wußte, daß seine Frau und sein Sohn Geheimnisse vor ihm gehabt hatten; der alte Betrüger war selbst betrogen worden. Im ersten Jahr nach Alexandras Tod hatten Michael und sein Vater kaum ein Wort miteinander gewechselt.

    Michael fragte sich, was aus Kevin Maguire geworden war.
    Die Strafe für Verrat an der IRA erfolgte sofort und war drastisch: schwere Folter und eine Kugel in den Hinterkopf.
    Aber dann überlegte er: Hat Maguire die IRA verraten - oder hat er mich verraten? Er ging nochmals die Ereignisse dieses Abends durch. Zwei Leihwagen über das Hotel Europa, der rote Escort, der blaue Vauxhall. Die beiden Treffs, die Maguire ausgelassen hatte, der Donegall Quay am River Lagan und der Botanische Garten. Und er dachte an Maguire selbst - sein Kettenrauchen, sein Schwitzen, seine langen Geschichten aus alten Zeiten. War Maguire nervös gewesen, weil er fürchtete, beobachtet zu werden? Oder war er schuldbewußt gewesen, weil er seinen alten Führungsoffizier in eine Falle lockte?
    Sie bogen von der schlechten Straße auf einen unbefestigten Feldweg ab. Der Nissan rumpelte und schaukelte von einer Seite zur anderen. Michael stöhnte unwillkürlich auf, als ein Schmerz sich wie ein Messer in seine Seite bohrte.
    »Kein Grund zur Sorge, Mr. Osbourne!« rief eine Stimme aus dem Wageninneren. »In ein paar Minuten sind wir da.«
    Fünf Minuten später hielt der Wagen endlich. Der Kofferraum wurde geöffnet, und Michael spürte einen feuchten Windstoß.
    Zwei Männer packten seine Arme und zogen ihn aus dem Kofferraum. Plötzlich stand er wieder aufrecht. Trotz der Haube spürte er, wie der Re gen auf seine Kopfverletzungen prasselte.
    Er versuchte einen Schritt zu gehen, aber seine Knie gaben unter ihm nach. Die beiden Männer fingen ihn auf, bevor er zu Boden ging. Michael legte ihnen seine Arme um die Schultern und ließ sich von ihnen ins Haus - anscheinend ein altes Farmhaus - schleppen. So durchquerten sie mehrere Räume, über deren Böden Michaels Füße nachschleiften. Dann wurde er auf einen Holzstuhl mit gerader Lehne gesetzt.
    »Wenn Sie hören, daß die Tür geschlossen wird, Mr. Osbourne, dürfen Sie die Haube abnehmen. Sie finden hier warmes Wasser und einen Waschlappen. Säubern Sie sich ein bißchen. Sie haben Besuch.«
    Michael zog die Haube ab, die steif war von getrocknetem Blut. Er blinzelte in das grelle Licht. Die Einrichtung des Raums bestand nur aus einem Tisch und zwei Stühlen. Die abblätternde Tapete mit Blumenmuster erinnerte ihn an das Gästehaus in Cannon Point. Auf dem Tisch stand eine weiße Emailschüssel mit Wasser; daneben sah er einen Waschlappen und einen kleinen Rasierspiegel. In die Tür war ein Guckloch gebohrt, damit sie ihn beobachten konnten.
    Michael begutachtete sein Gesicht im Spiegel. Seine Augen waren blutunterlaufen und fast

Weitere Kostenlose Bücher