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Der Botschafter

Der Botschafter

Titel: Der Botschafter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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wieder auf die Straße trat. Durch die Innenstadt fegte ein unangenehm kalter Wind.
    Michael ging die Great Victoria Street entlang nach Norden zum Europa zurück. Auf dem Gehsteig kam ihm mit klappernden Absätzen eine junge Frau entgegen, die beide Hände tief in den Taschen ihres schwarzen Ledermantels vergraben und über der linken Schulter eine Tasche hängen hatte. Er hatte sie irgendwo im Europa gesehen - vielleicht als Serviererin in der Bar oder als Zimmermädchen, das einen Wagen mit Putzzeug durch die Gänge schob. Sie sah angelegentlich geradeaus. Der Belfaster Blick, dachte Michael.
    In dieser Stadt schien kein Mensch einen anderen anzusehen, erst recht nicht nachts auf den menschenleeren Bürgersteigen der Innenstadt.
    Als die junge Frau noch sechs, sieben Meter von ihm entfernt war, stolperte sie anscheinend über die Kante einer nicht ganz eben verlegten Platte. Sie fiel hin, wobei der Inhalt ihrer Umhängetasche über den Gehsteig verstreut wurde. Michael war mit wenigen raschen Schritten bei ihr und ging neben ihr in die Hocke.
    »Haben Sie sich verletzt?«
    »Nein, nein«, sagte die junge Frau. »Nur ein kleiner Sturz - nicht weiter schlimm.«
    Sie fing an, ihre Sachen einzusammeln.
    »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte Michael.
    »Nicht nötig«, wehrte sie ab. »Ich komme schon zurecht.«
    Michael hörte einen Wagen auf der Great Victoria Street mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen beschleunigen.

    Er richtete sich auf, drehte sich um und sah einen größeren Nissan mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf sich zurasen. Im nächsten Augenblick spürte er etwas Hartes, das ihm ins Kreuz gedrückt wurde.
    »Steigen Sie in den Wagen, Mr. Osbourne«, sagte die junge Frau ruhig, »sonst zerschieße ich Ihnen das Rückgrat, so wahr mir Gott helfe.«
    Der Nissan hielt schleudernd am Randstein, und die hintere Tür wurde aufgestoßen. Auf dem Rücksitz saßen zwei Männer mit übergezogenen Sturmhauben. Einer der beiden sprang aus dem Wagen, stieß Michael auf den Rücksitz und stieg dann wieder ein. Der Fahrer gab Gas und ließ die junge Frau auf dem Gehsteig zurück.
    Sobald die Innenstadt hinter ihnen lag, drückten die beiden Männer Michael gewaltsam auf den Wagenboden und schlugen mit Fäusten und Pistolengriffen auf ihn ein. Er schlang seine Arme um den Kopf, um sich so gut wie möglich vor den Schlägen zu schützen, aber es nützte nichts. Er sah Sterne vor den Augen, hörte ein schrilles Klingeln und wurde bewußtlos.

18 
    COUNTY ARMAGH, NORDIRLAND
     
    Michael kam plötzlich wieder zu sich. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewußtlos gewesen war. Die Männer hatten ihn in den Kofferraum des Wagens gelegt. Er öffnete die Augen, aber um ihn herum blieb es stockfinster; jemand hatte ihm eine Haube aus schwarzem Stoff über den Kopf gezogen. Er schloß wieder die Augen und machte sich an eine Bestandsaufnahme seiner Verletzungen. Die Männer, die ihn überfallen hatten, waren keine Profis, die einen Mann halb totschlagen konnten, ohne Spuren zu hinterlassen. Sein Gesicht war geschwollen und mit Prellungen übersät, und er schmeckte Blut, als er sich mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr. Er konnte nicht mehr durch die Nase atmen, und sein Kopf tat an einem Dutzend Stellen weh. Da er anscheinend mehrere angebrochene Rippen hatte, war selbst der flachste Atemzug stechend schmerzhaft.
    Sein Unterleib schmerzte wie von Fußtritten und schien ebenfalls geschwollen zu sein.
    Unter der schwarzen Haube war Michaels Gehör plötzlich fast unnatürlich geschärft. Er hörte alles, was vorn im Wagen vor sich ging: das leise Quietschen der Sitzfederung, die Musik aus dem Autoradio, die harschen Laute der Gälisch sprechenden Männer. Sie hätten darüber diskutieren können, wo und wann sie seine Leiche aus dem Auto werfen wollten - er hätte kein Wort davon verstanden.
    Der Wagen fuhr noch einige Zeit mit hoher Geschwindigkeit auf einer gut ausgebauten Straße weiter. Michael wußte, daß es regnete, weil er das Zischen der Reifen auf dem nassen Asphalt hörte. Nach schätzungsweise zwanzig Minuten bremste der Fahrer und bog rechtwinklig von der Straße ab. Sie fuhren langsamer, weil die Fahrbahn schlechter wurde. Das Gelände wurde hügelig. Jedes Schlagloch, jede Kurve, jedes Gefalle, jede Steigung schickte Schmerzwellen durch seinen Körper. Michael bemühte sich, an irgend etwas anderes als die Schmerzen zu denken.
    Er dachte an Elizabeth, an sein Zuhause. In New York war es jetzt

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