Der Bourne Verrat: Roman (German Edition)
Schritt auf sie zu. »Aber du hast eigentlich gar nichts Westliches an dir.«
»Sonst hättest du mich auch nicht geheiratet«, sagte sie mit einer Stimme voll stiller Tiefe.
Ouyang studierte sie wie ein Maler das Modell für sein großes Kunstwerk. »Willst du wissen, was mich am meisten zu dir hingezogen hat?«
Maricruz öffnete ihre Augen einen Spalt.
»Deine Geduld.« Ouyang nahm einen Schluck Tee und behielt ihn einen Moment lang im Mund, ehe er ihn schluckte. »Geduld ist die allergrößte Tugend. Im Westen ist sie völlig unbekannt. Die Araber verstehen den Wert der Geduld, aber sie sind Primitive im Vergleich zu uns.«
Maricruz lachte. »Ich glaube, das mag ich am meisten an euch Chinesen: eure unglaublich hohe Meinung von euch selbst.« Sie lachte erneut. »Das Reich der Mitte.«
Ouyang nahm noch einen Schluck Tee und genoss ihn genauso wie diese intellektuellen Geplänkel mit seiner Frau. Niemand sonst hatte den Mut, so offen mit ihm zu sprechen. »Du lebst im Reich der Mitte, Maricruz.«
»Und ich liebe jeden Augenblick dieses Lebens.«
Ouyang trat zu einer engen Nische und hob eine kleine Jadeschatulle auf, die mit Drachen auf stilisierten Wolken verziert war.
»Das Reich der Mitte war immer schon eine reiche Quelle der Mythologie. Das weißt du ja längst, Maricruz. Du stammst ja selbst aus einer Kultur voller Mythen und Legenden.« Ouyangs schwarze Augen funkelten. »Doch unsere Geschichte ist so lang und ereignisreich, und wir mussten immer wieder schwere Rückschläge hinnehmen. Den ersten vor vielen Jahrhunderten, im Jahr 213 vor Christus, als Kaiser Qin Shihuangdi aus der Qin-Dynastie die Verbrennung aller Bücher befahl, die nicht mit Medizin, Astrologie und Landwirtschaft zu tun hatten. So gingen viele mythologische Quellen des Reichs der Mitte verloren.
Das Dekret wurde zwar im Jahr 191 zurückgenommen und die alte Literatur rekonstruiert, doch sie wurde so umgeschrieben, dass sie die Ideen untermauerte, die dem damaligen Kaiser zusagten. Wie so oft, änderte der Sieger die Geschichte in seinem Sinne, und wertvolle Informationen gingen für immer verloren.«
Er trat auf sie zu, die Schatulle wie einen Gegenstand von unschätzbarem Wert in den Händen haltend. »Manchmal jedoch wird ein Stück der kostbaren Vergangenheit wiederentdeckt, entweder durch das Schicksal oder den Wunsch, es zu finden.«
Er stand vor ihr und hielt ihr die Schatulle hin.
Maricruz betrachtete das Jadekunstwerk misstrauisch. »Was ist das?«
»Bitte«, sagte Ouyang und beugte sich zu ihr hinunter.
Maricruz nahm die Schatulle, die viel schwerer war, als sie erwartet hatte. Sie fühlte sich kühl an und glatt wie Glas. Mit einer Hand hob sie den Deckel. Ihre Finger zitterten. Drinnen lag ein gefaltetes Stück Papier. Sie blickte zu Ouyang auf.
»Der Name deiner Mutter, Maricruz.«
Ihr Mund öffnete sich, doch es kam kein Laut heraus.
»Solltest du den Wunsch haben, sie zu finden.«
»Sie lebt?«, hauchte Maricruz.
Ouyang betrachtete sie mit leuchtenden Augen. »Ja.«
Langsam schloss sie die Schatulle und stellte sie neben sich auf das Sofa. Sie setzte sich mit einer Anmut auf, die ihn faszinierte. Sie erinnerte ihn an die amerikanischen Filmstars der Vierzigerjahre. Als sie aufstand, teilte sich ihre Robe. Wie hat sie dieses Zauberkunststück fertiggebracht? , fragte er sich. Die inneren Halbkugeln ihrer festen Brüste traten wie wunderschöne Bronzeschüsseln zutage. Sie drückte ihren Körper gegen ihn.
»Danke, Ouyang«, sagte sie förmlich.
»Was wirst du tun?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich will es wissen. Und auch wieder nicht.«
»Du hast die Chance, deine eigene Geschichte wiederzufinden, die man dir genommen hat.«
»Damit würde ich mich gegen meinen Vater stellen.« Sie rieb ihre Stirn gegen seine Schulter. »Was ist, wenn mich meine Mutter nicht sehen will? Warum hat sie nicht versucht …?«
»Du kennst deinen Vater«, erwiderte Ouyang leise, »besser als sonst jemand.«
»Es muss einen Grund geben«, vermutete sie. »Kennst du ihn?«
»Mein Wissen darüber ist erschöpft.« Doch Ouyang kannte natürlich den Grund, und Maricruz würde ebenso Bescheid wissen, sobald sie den Namen ihrer Mutter las, die mit einem mächtigen Drogenkönig verheiratet gewesen war, einem Freund und Geschäftspartner, dem Maceo Encarnación Hörner aufgesetzt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte Constanza Camargo begehrt. Das allein hatte für ihn gezählt.
»Ich brauche Zeit«,
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