Der Bourne Verrat: Roman (German Edition)
rief die unterschiedlichsten Empfindungen in den Zuhörern hervor. Martha Christiana fühlte sich an ihre Vergangenheit erinnert: an den Leuchtturm im Nebel vor der Küste von Gibraltar, in dem sie zur Welt gekommen war, an ihren Vater, einen schroffen, wettergegerbten Mann, der stets dafür sorgte, dass der rotierende Lichtstrahl übers Meer geschickt wurde, an ihre blasse, zerbrechliche Mutter, die so sehr an Agoraphobie litt, dass sie den Leuchtturm nie verließ.
Die Musiker spielten ihr Stück, die Musik entfaltete sich in der vorgegebenen geheimnisvollen Ordnung, und Martha Christiana sah sich selbst, wie sie aus dem Leuchtturm flüchtete, ihre überforderten Eltern hinter sich ließ, sich an Bord eines Frachters schlich und von Gibraltar nach Nordafrika gelangte. Dort zog sie neunzehn Monate lang durch die Straßen von Marrakesch, verkaufte sich an dumme Touristen als Jungfrau, immer wieder, indem sie Ziegenblut vom Metzger verwendete, bis ein unermesslich reicher Marokkaner sie von der Straße holte und sie zu seiner unfreiwilligen Konkubine machte. Er schloss sie in seinem Haus ein, nahm sie mit brutaler Gewalt, wann immer ihm danach war, und das war oft.
Er kümmerte sich auch um ihre Bildung – sie beschäftigte sich mit Literatur, Mathematik, Philosophie und Geschichte. Außerdem lehrte er sie, nach innen zu schauen, zu meditieren, sich von allen Gedanken zu befreien, von allen Sehnsüchten, und in diesem Zustand der Transzendenz Gott zu sehen. Schließlich half ihr das Wissen, das sie bei ihm erwarb, zu erkennen, welch hohen Preis sie für das alles bezahlte. Dreimal versuchte sie aus ihrem goldenen Käfig zu entfliehen, und dreimal fing er sie wieder ein. Und die Strafe fiel jedes Mal grausamer aus, doch sie härtete sich ab und ließ sich nicht einschüchtern. Eines Nachts, als er sie wieder einmal nahm, wollte sie ihm mit einer Glasscherbe, die sie heimlich aufbewahrte, die Kehle durchschneiden. Seine Augen trübten sich, als sähe er seinen Tod in ihrem Gesicht gespiegelt. Seine Finger krallten sich an ihren Unterarmen fest, als wollte er sie mit sich nehmen, als er an einem Herzanfall starb. Sie nahm alles Geld, das sie finden konnte, und floh aus Marrakesch, um nie wieder zurückzukehren.
Es waren keine angenehmen Erinnerungen, doch sie gehörten zu ihr, und nach vielen Jahren, in denen sie versucht hatte, sie zu verdrängen, lernte sie sie anzunehmen, als einen Teil von sich, den nur sie kannte. Hin und wieder, wenn sie allein im Dunkeln war, spielte sie Bach auf ihrem iPod und dachte an die Zeit in Marrakesch zurück, um sich daran zu erinnern, wer sie war und woher sie kam. Dann meditierte sie und machte sich von allem frei, damit Gott sie erfüllte. Sie hatte lange gebraucht und vieles erdulden müssen, um so weit zu kommen. Immer ging sie erneuert von diesen Reisen zu ihrem früheren Ich hervor, bereit für die Aufgaben, die vor ihr lagen.
Als das Konzert vorbei war, klatschten die Leute, erhoben sich von ihren Plätzen und verlangten eine Zugabe. Die vier Musiker kamen zurück, nachdem sie den wohlverdienten Beifall genossen hatten, nahmen ihre Instrumente zur Hand und spielten ein kurzes, rhythmisches Stück. Wieder wurde applaudiert, als das Konzert – diesmal endgültig – zu Ende ging.
Martha beobachtete, wie sich die Frau neben Herrera ihm zuwandte, etwas zu ihm sagte und er antwortete. Sie war nicht hübsch, aber eine stattliche Erscheinung, gut gekleidet, wahrscheinlich eine Pariserin.
Die Zuschauer schoben sich auf die Gänge hinaus und tauschten ihre Eindrücke vom Konzert aus. Martha Christiana folgte den Leuten in ihrer Reihe und wartete ein wenig, sodass sie genau neben der Frau an Herreras Seite auf den Mittelgang hinaustrat.
»Le concert vous a-t-il plu?« , fragte sie die Frau. Hat Ihnen das Konzert gefallen? »J’aime Bach, et vous?« Ich liebe Bach, Sie auch?
»En fait, non« , gab die Frau zurück. Eigentlich nicht . »Je préfère Satie.«
Martha dankte Gott für die Gelegenheit und sprach schließlich Herrera an. »Et vous, Monsieur, préférez-vous aussi Satie ?«
»Non« , antwortete Herrera mit einem nachsichtigen Lächeln in Richtung seiner Begleiterin. »Für mich gibt es keinen Größeren als Bach, obwohl mein absoluter Lieblingskomponist Stephen Sondheim ist.«
Martha ließ ein glockenhelles Lachen ertönen, warf den Kopf zurück und zeigte ihren langen makellosen Hals.
»Ja«, sagte sie. » Follies ist schon ein tolles Musical.«
Nun blickte Herrera
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