Der Bourne Verrat: Roman (German Edition)
schritt und das Foto von ihr und ihrer Mutter in die Hand nahm. Erst jetzt sah sie, dass dahinter noch ein zweites Bild stand. Es zeigte einen schlanken Mann in einer Kapitänsjacke im Leuchtturm, vom hereinflutenden Sonnenlicht erhellt.
Martha Christiana betrachtete das Bild ihres Vaters, ohne es jedoch aufzuheben. Aus irgendeinem Grund hätte sie es als Entweihung empfunden, das Bild zu berühren. Schließlich stellte sie das Foto zurück und wandte sich der alten Frau zu. Die blickte aus dem Fenster auf den Rasen hinaus, auf die Palmen dahinter und die nichtssagenden Gebäude auf der anderen Straßenseite. Es gab nicht viel zu sehen, doch ihr Blick war unglaublich konzentriert. Martha glaubte nicht, dass sie wirklich das Gras, die Bäume oder die Häuser betrachtete: Das alles war für sie wohl bedeutungslos. Sie saß leicht nach vorne gebeugt, angespannt, und spähte wie durch ein Fernrohr in ihre Vergangenheit.
»Mama«, sagte Martha mit zitternder Stimme, »was siehst du?«
Als sie die Stimme hörte, begann ihre Mutter vor- und zurückzuwippen. Sie war furchtbar dürr, an manchen Stellen schimmerten die Knochen weiß durch die papierdünne Haut. Sie war so blass wie die Wintersonne.
Martha trat vor die alte Frau hin. Ihre Wangen waren von Furchen durchzogen, ihr ganzes Gesicht vom Alter, von Kummer und Verlust gezeichnet, doch etwas in ihr war unverändert geblieben. Es gab Martha einen Stich tief in ihrem Inneren.
»Mama, ich bin’s, Martha. Deine Tochter.«
Die alte Frau blickte nicht auf, vielleicht konnte sie es auch nicht. So als wäre sie in der Vergangenheit eingeschlossen. Martha zögerte, dann nahm sie die knochige Hand in ihre. Sie war so kühl wie Marmor, mit hervortretenden blauen Adern, die, so schien es, jeden Moment durch die Haut brechen konnten. Schließlich blickte Martha in die Augen ihrer Mutter, grau und flüchtig wie vorbeiziehende Wolken, die der Wind verwehte.
»Mama?«
Die Augen bewegten sich unmerklich, doch da war kein Wiedererkennen in ihnen. Es war, als würde sie gar nicht existieren. Für so viele Jahre hatten ihre Eltern für sie nicht mehr existiert. Und jetzt? Ihr Vater tot. Und ihre Mutter am Ende ihres Lebens. Sie selbst ein Stein, der – ins Meer geworfen – unbemerkt in die Tiefe sank.
Eine ganze Weile stand sie so still wie der Fels von Gibraltar und hielt die kühle Hand ihrer Mutter. Plötzlich bewegten sich die Lippen der alten Frau, sie flüsterte etwas, das Martha nicht verstand. Und sie wiederholte es nicht, auch nicht auf Marthas inständiges Drängen. Stille legte sich über sie beide. Die Jahre waren verflogen, wie gefallene Blätter, welk und tot.
Als sie wieder atmen konnte, ließ Martha Christiana die Hand ihrer Mutter los. Sie ging zur Tür, ohne selbst so recht zu wissen, was sie tat. Sie öffnete die Tür und sah Don Fernando geduldig draußen warten.
»Komm rein«, sagte sie. »Bitte.«
»So, alter Junge.« Brick biss herzhaft in die riesige Olive und kaute genüsslich. »Ich hab ein bisschen Arbeit für Sie. Sind Sie bereit?«
»Klar«, sagte Peter. »Warum nicht?«
»Das ist ein Wort.«
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er hatte keine Ahnung, was Brick von ihm verlangen würde, doch es war bestimmt nichts Gutes. Wer A sagt, muss auch B sagen , dachte er.
Die beiden Männer saßen in der Küche von Bricks sicherem Haus in Virginia. Auf dem Tisch zwischen ihnen standen Teller mit italienischer Salami, Mortadella und mit Pecorinokäse, Schalen mit Olivenöl, knuspriges Brot, ein Olivengericht und vier große Flaschen mit dunklem belgischem Bier, zwei davon bereits geleert. Dick Richards war schon vor einer Stunde mit Bogs aufgebrochen, der ihn zurück zum Treadstone-Hauptquartier brachte.
Brick wischte sich die Lippen ab, ging zu einer Schublade und wühlte darin, bis er gefunden hatte, was er suchte, und sich wieder zu Peter setzte.
»Also«, sagte Peter, »wo soll ich hin?«
»Nirgends.«
»Was?«
»Sie bleiben hier.« Brick schob ihm ein winziges Päckchen über den Tisch zu.
»Was ist das?«
»Rasierklingen.«
Peter hob das Päckchen auf und öffnete es. Tatsächlich fand er darin vier Rasierklingen. Vorsichtig nahm er eine heraus. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich die zum letzten Mal gesehen habe.«
»Ja«, sagte Brick, »die sind noch aus dem letzten Jahrhundert.«
Peter lachte.
»Kein Witz, mein Freund. Die schneiden dir den Finger ab, wenn du sie nur schief anschaust. Die sind extrem scharf.«
Peter ließ die
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