Der Bourne Verrat: Roman (German Edition)
seine unfehlbare innere Uhr verriet. Er hatte Hunger, doch das war jetzt unwichtig. Es gab dreißig Millionen Gründe, das Knurren in seinem Magen zu ignorieren. Er fand eine wasserdichte Taschenlampe und ging damit an Deck.
Draußen funkelte Washington wie in weiter Ferne. Don Tulio blickte zur Recursive hinüber. Es war niemand zu sehen. Der ganze Jachthafen wirkte verlassen und leer. Trotzdem wartete der Azteke ab und lauschte den Geräuschen der Nacht. Da war das Plätschern der Wellen, die gegen die Bootsrümpfe schlugen, das Knarren der Masten, das Klimpern der Taue gegen die Masten: die normale Geräuschkulisse eines Jachthafens. Don Tulio lauschte nach irgendwelchen ungewöhnlichen Geräuschen – Schritten oder leisen Stimmen, irgendetwas, das die Anwesenheit von Menschen verriet.
Die Luft schien rein zu sein, und so stieg er aus dem Boot und blickte zum unbeleuchteten Haus des Hafenmeisters hinüber, ehe er rasch und lautlos zum Liegeplatz 31 eilte und endlich an Bord der Recursive ging.
Er eilte sofort zum zweiten Fender an der Steuerbordseite und tastete. Das Nylonseil war noch da! Mit pochendem Herz zog er es herauf. Das Gewicht fühlte sich genau richtig an, und er war sich mit jedem Moment sicherer, dass die dreißig Millionen noch da waren, hier vor ihm am Ende des Seils.
Doch als er es ganz heraufgezogen hatte und die Taschenlampe einschaltete, sah er, dass ein Bleigewicht am Ende befestigt war.
»Suchen Sie das hier?«
Don Tulio wirbelte herum und sah Jefe Marks mit der wasserdichten Tasche in der Hand: leer, die dreißig Millionen fort und sein Leben zu Ende. In seiner Wut und Verzweiflung stürzte er sich auf seinen Peiniger und hörte die Explosion durch sein Ohr donnern, spürte, wie die Kugel eindrang und aus seinem linken Oberarm austrat. Er ließ sich nicht aufhalten und riss Marks mit sich über die Reling, und das kalte dunkle Wasser nahm ihnen beiden den Atem.
»Ausgerechnet Chinatown?« Charles Thorne setzte sich an den Resopaltisch, dem groß gewachsenen, schlanken Mann gegenüber, der einen dieser typischen glänzenden chinesischen Anzüge trug, die den amerikanischen Stil imitierten, wenn auch nicht allzu gut.
»Probier die Moo Goo Gai Pan«, schlug Li Wan vor und deutete mit seinen Stäbchen auf den Teller. »Ist wirklich lecker.«
»Herrgott, es ist vier Uhr früh«, brummte Thorne säuerlich. Er verzichtete darauf, Li zu fragen, wie er es geschafft hatte, dass ein Restaurant für ihn geöffnet hatte, zu einer Stunde, in der nicht einmal mehr die Katzen durch die Straßen von Chinatown streiften. »Außerdem ist es gar kein echtes chinesisches Gericht.«
Li Wan zuckte mit seinen dünnen Schultern. »Wir sind hier in Amerika.«
Thorne packte kopfschüttelnd die Stäbchen aus und begann zu essen.
»Du hast wahrscheinlich Rindersehnen und getrocknete Fischblasen erwartet«, sagte Li schaudernd.
»Mein Freund, du bist schon zu lange in Amerika.«
»Ich bin hier geboren , Charles.«
Thorne schob sich einen Bissen von dem Hähnchen in den Mund. »Das meine ich ja. Du brauchst mal Urlaub. Besuch deine alte Heimat.«
»Es ist nicht meine Heimat. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, hier in D.C.«
Li, ein prominenter Urheberrechtsanwalt, hatte die Georgetown University absolviert und war ein hundertprozentiger Einheimischer. Dennoch konnte Thorne es sich nicht verkneifen, ihm gelegentlich seine chinesischen Wurzeln unter die Nase zu reiben; es gehörte einfach zu ihrer Beziehung.
Thorne runzelte die Stirn. Im Gegensatz zu Li schmeckte ihm die Moo Goo Gai Pan überhaupt nicht. »Für einen Außenstehenden kennst du ganz schön viele ihrer Geheimnisse.«
»Wer sagt, dass ich ein Außenstehender bin?«
Thorne musterte ihn nachdenklich, ehe er einen vorbeigehenden Kellner rief, der desinteressiert zu ihnen an den Tisch trat. Thorne griff nach der mit Fettflecken überzogenen Speisekarte und bestellte Huhn nach General Tso. »Extra knusprig«, fügte er hinzu, obwohl ihm der Kellner kaum zuzuhören schien. Erst als Li ihn in scharfem Ton auf Kantonesisch zurechtwies, eilte der Kellner davon, als hätte ihm Li ein Feuer unter dem Hintern entfacht.
Li schenkte ihnen beiden Chrysanthementee ein. »Also wirklich, Charles, es wird langsam Zeit, dass du auch Kantonesisch lernst, nicht nur Mandarin.«
»Wozu? Damit ich Kellner in Chinatown einschüchtern kann? Zu mehr kann man es heutzutage nicht mehr gebrauchen.«
Li betrachtete ihn mit seinem unergründlichen Blick.
»Ich
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