Der Brandstifter
Kopfschütteln und einem Lächeln versuchte ich die Pillen abzuwehren, aber sie ließ sich nicht so leicht abschütteln.
» Ich habe auch noch Aspirin. Das soll man ja angeblich täglich nehmen, damit man keinen Schlaganfall bekommt. Zumindest sagen sie das immer, aber wahrscheinlich erzählen sie nächste Woche schon wieder was ganz anderes. Schau’n wir mal. Im Verbandskasten sind, glaube ich, auch noch Paracetamol-Tabletten. Aber damit müssen Sie sehr vorsichtig sein. Ich habe gehört, dass nur fünf Stück reichen, um einen umzubringen. Stellen Sie sich das mal vor!« Ihr makellos geschminktes Gesicht leuchtete entzückt bei dem Gedanken.
» Ich brauche wirklich nichts.«
» Vielleicht hat ja eins von den Mädchen noch was mit Codein da. Ich kann ja mal herumfragen. Vielleicht hilft Ihnen das. Oder nehmen Sie gar kein Codein?«
Martine nahm offenbar an, dass ich eine Art religiöse Fanatikerin war. Das lag vermutlich daran, dass ich bei beruflichen Anlässen nie Alkohol trank, egal, ob zum Mittagessen mit Kollegen oder beim Ausgehen mit Mandanten. Auch zur Weihnachtsfeier machte ich keine Ausnahme. Daran nahm ich eigentlich nur teil, weil es keinen guten Eindruck machte, wenn man fehlte. Ich hielt mich dabei, so gut es ging, im Hintergrund, hielt mich an einem Mineralwasser fest, bis es so spät war, dass es nicht mehr unangenehm auffiel, wenn ich heimging. Martine konnte das überhaupt nicht fassen und hatte dafür ihre eigenen Antworten gefunden. Ich habe nie versucht, ihr etwas zu erklären. Es erschien mir einfacher, sie in ihrem Glauben zu lassen. Allerdings musste ich dadurch gelegentlich recht skurrile Gespräche über mich ergehen lassen.
» Doch, ich nehme Codein. Ich meine, ich brauche es zwar nicht, aber wenn ich es bräuchte, würde ich es nehmen.«
» Ah, das nehmen Sie also. Verstehe.« Sie schaute mich vielsagend an, als wäre Codein so etwas Ähnliches wie Kokain. Als hätte sie mein Hintertürchen entdeckt, wie ich mir gelegentlich frohe Stunden verschaffte und mich mit rezeptfreien Medikamenten zudröhnte.
Ich suchte meine Unterlagen für die Besprechung zusammen. » Ich muss jetzt gleich los. Ich habe alles, was ich brauche, vielen Dank.« Dann schoss mir noch ein Gedanke durch den Kopf: » Falls meine Freundin anruft– Rebecca, vielleicht erinnern Sie sich–, können Sie sie bitte nach einer Rückrufnummer fragen, unter der ich sie erreichen kann?«
Ihr Blick wanderte umgehend zu dem Bild von uns beiden, das über meinem Schreibtisch an die Wand gepinnt war. Das Bild war vor Jahren aufgenommen worden, als ich noch schmaler, blasser und zurückhaltender war als heute. Rebecca stand damals wie eine zauberhafte Rose in der Blüte ihrer Jugend; auf dem Foto jubelte sie, weil sie gerade ihre letzte Prüfung hinter sich gebracht hatte. Ich selbst war auf dem Bild nicht sonderlich gut getroffen, schaute ich doch Rebecca an statt in die Kamera, und mein Blick war eher skeptisch. Aber sie wirkte so authentisch und lebendig, dass ich die Aufnahme aufgehoben hatte als Erinnerung daran, wie sie gewesen war, als ich sie kennen gelernt hatte. Das Älterwerden hatte zwar ihrer Schönheit nicht geschadet, aber ihr Gesicht hatte sich verändert und war ein wenig strenger geworden, und ihre Augen wirkten bei unserer letzten Begegnung so traurig– so unendlich traurig.
» Sie erreichen sie wohl nicht?«
Martines Stimme klang so mitfühlend, dass ich nicht anders konnte als zuzugeben, dass sie sich nicht meldete, und sie um Rat zu fragen, was ich tun sollte.
» Gehen Sie bei ihr vorbei«, antwortete sie auf der Stelle. » Klingeln Sie an ihrer Tür. Sie wissen doch, wo sie wohnt, oder? Die Leute machen heutzutage viel zu viel per E-Mail, Telefon oder SMS und treffen sich kaum noch persönlich.«
Die Isolation des modernen Menschen war eines von Martines Lieblingsthemen. Ich verdrückte mich eilends zu meiner Besprechung und fühlte mich erleichtert, aber auch wieder ein Stück entschlossener. Martine hatte ausnahmsweise einmal eine gute Idee gehabt. Ich wusste in der Tat, wo Rebecca wohnte, und hatte obendrein ihren Schlüssel. Nach meiner Besprechung würde ich einfach hinfahren, beschloss ich und setzte mich zum ersten Mal seit Wochen leichten Herzens an den Konferenztisch.
Meine gute Laune hielt den ganzen Weg über vom Büro bis zu ihrer Wohnungstür an. Auf dem Weg von der Bahnstation hatte ich ihre Festnetznummer angerufen und wusste somit, dass sie höchstwahrscheinlich nicht zu Hause
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