Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld
Ganze und das Vollkommene, wissend, daß das Ganze und Vollkommene nicht auszuhalten ist. ›Wenn Sie gern leben wie ich, dann müssen Sie halt in einer Art ständiger Hassliebe zu allen Dingen leben.‹« Die zitierte Äußerung fiel wohl in einem Gespräch, ihr Tenor wird bestätigt durch Bernhards Satz in einem Brief vom 7. Februar 1986: »Wie auch immer, wäre die gegenseitige Hassliebe, mit der ich, wie mit allem andern auch, mit Ihnen zu leben wünsche, zu erneuern.« (S. 186) Unseld war sich also bewußt, daß dieser Autor unablässig Impulsen gehorchte und Ziele verfolgte, die diametrale Gegensätze in sich vereinigten.
Die mehr als 500 Briefe ausmachende Korrespondenz trägt einen gewichtigen Teil dazu bei, diese eigen-artige Verleger-Autor-Beziehung in all ihren Phasen nachzuerleben. Doch ein Versuch, die Motive der beiden Schreiber zu begreifen, verlangt weiteres Material. Denn die Korrespondenz gerät immer dann ins Stocken, wenn die Meinungsverschiedenheiten unüberbrückbar erscheinen: Bevor es zum Bruch kommt, trifft man sich – dem mündlichen Austausch trauen beide größere Verständigungsqualitäten zu als dem schriftlichen. So erklärt Bernhard: »Ich halte es für besser, zu reden, als zu korrespondieren, denn in der Korrespondenz kreuzen sich seit Jahrtausenden die Missverständnisse, wie Sie wissen.« (S. 112) Unseld antwortet: »Sie haben schon recht, man hat mit der Korrespondenz und ihrer Wortfixierung manchmal Schwierigkeiten. Doch ich sehe Sie wirklich gern, und ich finde, wir haben einiges zu bereden, Selbstverständliches und Darüberhinausgehendes.« (S. 114)
Diese Begegnungen hat Unseld, wie im Falle anderer Autoren auch, kurz nach der Rückkehr an den Verlagsschreibtisch in »Reiseberichten« festgehalten. Die von ihm diktierten – bei Bernhard fast stets ausführlichen – Zusammenfassungen von Inhalt und Umständen der Autorengespräche hatten einen doppelten Zweck: Sie dienten zum einen der Information von Verlagsmitarbeitern, sollten später zum anderen das Basismaterial einer von ihm selbst zu verfassenden Verlags- und Verlegergeschichte bilden. Sie werden hier in großen Passagen für den Kommentar herangezogen. Denn sie sind unerläßliche Quellen zum Verständnis der Korrespondenz, da sie u. a. die Gespräche der Protagonisten dokumentieren. Obwohl ihnen kein Anspruch auf unbedingte Objektivität zukommt, eröffnen sie zusätzliche Perspektiven. Deshalb hatten es die Herausgeber in Kauf zu nehmen, daß der Kommentarteil einen großen Raum einnimmt.
Der Briefwechsel enthält Mitteilungen ganz unterschiedlicher Art, auch solche persönlicher Natur – als eine rein private Korrespondenz kann sie jedoch keiner der Partner verstanden haben. Dem Autor muß klar gewesen sein, daß Schreiben an den Leiter eines Verlags mit vielen Abteilungen, die für seine Arbeiten wichtig sind, vollständig oder teilweise Dritten zur Kenntnis gelangen, von einer neugierigen Nachwelt ganz zu schweigen. Damit er diesen Umstand nicht vergesse, erinnert ihn Siegfried Unseld (im Brief vom 24. Juli 1968, S. 83) daran: »ich stelle mir vor, was künftige Adepten des Studiums von Literatur- und Verlagsgeschichte bei der Lektüre unseres Briefwechsels sagen werden.« Das heißt: Verleger wie Autor formulieren immer auch unter dem und für den Blick gegenwärtiger oder später lebender Dritter. Allein deshalb gilt für diese Korrespondenz die testamentarische Verfügung Bernhards nicht, wonach aus dem Nachlaß nichts veröffentlicht werden dürfe. Seine Briefe sind an einen Empfänger gerichtet, der in seiner Eigenschaft als Verleger geradezu exemplarisch die Öffentlichkeit repräsentiert.
Thomas Bernhard zählt nicht zu den Autoren, bei denen Siegfried Unseld die gegenseitige Beziehung bis zum freundschaftlichen Du vorantrieb. Obwohl der Verleger Befreundungen mit den Autoren als generelle Strategie einsetzte, um die Austragung der sachlichen Gegensätze durch enge persönliche Beziehungen einzuhegen, kam es in diesem Fall nur in wenigen Momenten zu einer Anrede mit dem Vornamen, auf die das »Sie« folgte. Um eine solche Ausnahme zu erklären, reicht es nicht hin, das Stereotyp des Misanthropen Thomas Bernhard zu bemühen – allein der Umfang der Korrespondenz widerlegt ein solches Urteil. Zutreffender, wenn auch nicht ausreichend, ist es, auf eine Selbstcharakteristik zu verweisen: Bereits in seinem ersten Brief von 1961 an Unseld schreibt er: »Ich gehe den Alleingang.« Bis zum
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