Der Briefwechsel
Jukeboxen fort, mit der Zeit hatte er auf seinen vielen Reisen überall in der Welt eine Witterung für Jukebox-Orte erhalten. Im Hotel fand er ein Zimmer, das ihm Fläche genug bot für ein Blatt Papier, Bleistifte und Radiergummi. Zunächst war ihm sein »Versuch über die Jukebox« als Dialog auf der Bühne, als »Bühnen-Zwiegespräch« in den Sinn gekommen, jetzt, in der Einsamkeit und Freiheit von Soria, drängte sich ihm auch die Befreiung von gegebenen literarischen Formen auf, eine Befreiung für neue, unbekannte literarische Möglichkeiten. Seine Erzählläufe sollten in »Durchlaß-Formen« den Gegenstand nicht einfangen, ihn vielmehr umkreisen, umreißen, umspielen, von den Rändern her erfassen. Alles, was ihm auf seinen Wanderungen begegnete, begegnete ihm als Rhythmus und als Erzählungsglieder, was er aufnahm, war in ihm schon erzählt, »Gegenwartsaugenblicke ereigneten sich ihm in der Vergangenheitsform«, anders als in den Träumen, ohne Umschweife, als bloße Hauptsätze. Bevor er nur den ersten Satz schrieb, verwandelte sich der Versuch in eine Erzählung (70/71). Und auch dies war für ihn neu, daß in den Bildern seiner Phantasie jeder Ort, wo er die Erzählung aufschriebe, mit erschiene: Soria als Soria, gleichermaßen Erzählgegenstand wie die Jukebox. (73) Die Hütten im nördlichen Spanien kamen ihm wie die Wiesenscheunen seiner Heimat vor, freilich, ihr Hauptzauber war für den Halbwüchsigen damals auf einen Prachtparadeort der Jukebox übergegangen, deren Musik nicht von oben, sondern aus dem Untergrund kam und ihm ein Gefühl des Aufgehobenseins vermittelte. »Das Kind lauschte ganz Ohr, ganz Ernst, ganz Versenkung« (80). Die Klänge ließen ihn ruhig werden, sich sammeln, sie weckten in ihm Möglichkeits
566 bilder und bestärkten ihn darin (86); sie wirkten auf ihn wie eine ›Levitation‹, eine Aufhebung, eine Entgrenzung. Selten, aber doch immer wieder sei es ihm widerfahren, einmal in Anchorage, wo eine Indianerin neben der funkelnden Jukebox stand, ihn beim Tanzen fragte, ob er für immer zu ihr gehen wollte, doch wie Parzival zögerte er, und sofort war die Frau in der Schneenacht verschwunden, noch Jahrzehnte später war ihm das Bild lebendig. Das einzige Mal, daß er in Soria eine Jukebox sah, war in einem englischen Film. Wieder verspürte er einen Zauber, doch diesmal nicht so sehr um sich zu sammeln, vielmehr glaubte er, neben dieser Jukebox eine »ganz eigene Gegenwärtigkeit« zu bekommen; er sah hörend auf seine Welt, alles »besagte« irgend etwas, der Gegenwart wurden förmlich Gelenke eingesetzt. Alles gewann Bedeutung, auch die Wörter der täglichen Zeitung, Llavero war der Schlüsselbund, und mit erhobenem Schlüsselbund nahm eine Frau in Prag an einer Demonstration teil; puerta giratoria war die Drehtür (und er erinnerte sich, daß Samuel Beckett seinerzeit durch eine Drehtür in die Pariser »Closerie des Lila« getreten war). Dann notierte er: »Die Nachricht von der Exekution des Paares Ceaucescu las er nicht nur mit Genugtuung, sondern mit altem, frischerwachtem Grauen vor der Geschichte.« (123) In Soria war seine Suche nach einer Jukebox vergebens, es war also doch so, daß die einzige Jukebox Spaniens in Linares stand. Aber die Niederschrift nach ihr gab dem Notierenden das Gefühl neuer Gegenwärtigkeit; er wußte nun, »daß er jetzt wirklich aufgebrochen war von dort, wo er herkam«. Der Held von Handkes neuer Erzählung ist die Erzählung selbst. Ihre Struktur bringt den Leser immer wieder dazu, den Verlauf des Erzählten für sich aufzunehmen. Roland Barthes hat geschrieben, ein Text errege in ihm dann als Leser die größte Lust, »wenn es ihm gelingt, sich indirekt zu Gehör zu bringen, den Kopf zu heben, etwas anderes zu hören«. So wirken auch Handkes Texte; man solle beim Lesen, so sagte er einmal, innehalten, tief einatmen, »sich von der Sonne bescheinen lassen, auch wenn diese gar nicht scheint«. Selten hat Handke so wie hier das Konkrete, das Äußere einer Landschaft, einer Stadt, einer Zivilisation der Zeitgeschichte beschrieben und damit auch das Innere getroffen. In dieser Erzählung halten sich Phantasie und Welt in faszinierendem Gleichgewicht. »Es hilft ja nichts«, schrieb Urs Jenny, »Handkes Größe ist über alle Verrisse hinweg unanfechtbar; kein anderer Autor seines
567 Alters hat annähernd soviel aus sich herausgeholt, aus sich gemacht, und nur aus sich. Ohne Größenwahn gibt es keine Größe – er hat den Mut
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