Der Brombeerpirat
Sicherheit nicht sein Musikgeschmack. Daneben eine Selbstgebrannte, seine Handschrift auf dem Einlegeblatt. »Die Piraten – Inselkind«. Sie holte die glänzend blaue Scheibe heraus und schob sie in das leere CD-Fach der Anlage. Wencke drückte auf die Taste mit dem einzelnen Dreieck, sicher würde nichts passieren, fremde Anlagen machten nie das, was man von ihnen wollte. Doch sie hörte das leise Zischeln, das immer kam, kurz bevor die Musik losging.
Gitarre, dann ein wenig Bass. Jaspers Stimme:
Inselkind, in deiner Welt gibt es Grenzen aus Weite die den Horizont unendlich machen
und obwohl du damit lebst, dass nicht alles möglich ist
bist du freier.
Sie drehte lauter, ging in den Flur und stellte sich vor das eingerahmte Mädchen mit den seltsam hellen Augen.
Inselkind, in deiner Welt gibt es Zeiten aus Kräften
die Termine utopisch machen
und obwohl du damit lebst, dass der Mond die Uhren stellt
bist du ruhiger.
Das Schlagzeug setzte ein wie ein Herzschlag.
So oft, wenn du weinst
oder lachst
und das Meer salziger machst
so oft, wenn du fragst oder sprichst
und die Welt zu verstehen scheinst
so oft, wenn du schläfst
oder aufgeweckt alles auf einmal erwartest
so oft schenkst du mir
ein kleines Stück von der Insel in dir.
Wencke lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schloss die Augen. Ihr Bruder hatte dieses Talent, sie aufzuwühlen, verdammt nochmal, warum ging es ihr immer wieder so nahe, was er tat?
Sie öffnete die Augen wieder und wurde vom Blick des Mädchens eingefangen. Sie war das Inselkind, Jasper hatte dieses Lied für sie geschrieben. Wer war sie?
Was war es wohl für ein Gefühl, wenn einem ein Lied auf den Leib geschrieben wurde?
Wencke hätte es zu gern gewusst.
Doch irgendwie hatte Jasper sie nie richtig wahrgenommen. Blöde Eifersucht auf den großen Bruder, da war sie wieder. Lange verdrängt und fast vergessen, saß der Stachel in diesem Augenblick tiefer als jemals zuvor.
Sie war immer irgendwie allein gewesen. Sie war eine Außenseiterin in der Familie und eine Außenseiterin im Kollegenkreis, den einen zu brav und den anderen zu chaotisch, niemand war jemals wirklich zufrieden mit dem, was sie nun mal war. Früher einmal hatte sie darunter gelitten, ein schwarzes Schaf zu sein, und es hatte sich zugespitzt. Wencke verdrängte oft den Gedanken daran, doch sie hatte bereits einmal am Abgrund gestanden. Es war ein Moment gewesen, in dem sie sich sicher war, dass es sich nie ändern würde. Dass sie immer außen vor bliebe, immer am Rand, nie wirklich erwünscht, nie wirklich respektiert. Es war ein schmerzhafter Augenblick gewesen, denn es hatte damals kein Zurück gegeben. Sie konnte nur allem ein Ende machen, und es gab damals zwei Möglichkeiten für sie, das zu tun: Selbstmord oder Neuanfang. Und sie hatte lange Zeit geglaubt, das Erstere wäre der einfachere Weg. Schluss und nichts mehr dahinter. Doch dann hatte sie den Studienplatz an der Kunsthochschule in den Wind geschrieben und zum Entsetzen der Familie die Polizeischule besucht. Sie war ihren eigenen Weg gegangen. Schritt für Schritt. Bis zum Hier und Heute, wo sie in Jaspers Wohnung stand und den Auftrag hatte, ihren Bruder zu suchen. Sie musste es schaffen, es war mehr als nur wichtig. Es war vielleicht die letzte Gelegenheit, über die Kluft zwischen ihr und der Familie eine Brücke zu schlagen und die Anerkennung zu finden, die sie suchte.
Ein lobendes Wort von Axel Sanders, von diesem hundertfünfzigprozentigen, ausnahmslos korrekten, eiskalten Dauerkonkurrenten. Oder ein paar Zeilen von ihrem Bruder, einfach als Zeichen, dass er sie wahrnahm.
Sie stellte die Musik ab. Veit Konstantin war ihr eingefallen. Sie war schließlich nicht zum Vergnügen hier, obwohl es ohnehin bislang ein zweifelhaftes war.
Sie fand das Telefonbuch auf Anhieb auf dem Beistelltischchen neben dem Sofa. Diese Ordnung war ohne Zweifel Rikas Verdienst. Jasper hätte wahrscheinlich gar kein Telefonbuch besessen.
Zu Wenckes großem Erstaunen gab es ein eigenes Buch nur für Norderney. So als wäre diese mittelgroße Insel in der südlichen Nordsee die ganze Welt. Sie suchte unter K.
Konstantin, Alide, Am Leuchtturm.
Konstantin, Heiko, Jann-Berghaus-Straße.
Konstantin, Veit, Bismarckstraße. Das musste er sein.
Sie versuchte, sich auf dem beigelegten Stadtplan zu orientieren, was nicht einfach war. Norderney war gar nicht so klein und gar nicht so übersichtlich, wie sie vermutet hatte, im
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