Der Buddha aus der Vorstadt
verstehen?«
»Mensch, Allie, wie kann man nur so doof sein? Kapierst du denn nicht, was hier abläuft?«
Er sah mich verletzt an und ließ die Schultern hängen: Es war nicht schwer, ihn zu verletzen, weil er so unsicher war. Ich wußte nicht, wie ich mich entschuldigen sollte, damit wir uns wieder vertragen konnten.
Er murmelte: »Aber ich hab es noch nie von einem anderen Standpunkt aus gesehen.«
Gerade in dem Moment hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Es klang neu in meinen Ohren, und doch war es ein Geräusch, das ich jahrelang jeden Tag gehört hatte, wenn Mum aus dem Laden nach Hause kam, um unser Abendessen zu machen. Sie war es. Ich stand auf und umarmte sie. Mum freute sich, mich zu sehen, wenn auch nicht gerade überschwenglich; immerhin beruhigte es sie, zu wissen, daß ich nicht umgekommen war und eine Arbeit hatte. Sie sagte, sie sei in Eile. »Ein Freund wird gleich kommen«, erklärte sie ohne zu erröten. Allie und ich zwinkerten uns zu. Sie duschte sich, zog sich um, und wir putzten Staub und saugten das vordere Zimmer. »Mach lieber auch noch die Treppe«, sagte Allie.
Mum brauchte ewig, und Allie sagte ihr, welchen Schmuck und welche Schuhe sie zu welchem Kleid tragen sollte. Und das war einmal eine Frau gewesen, die gewöhnlich nur einmal die Woche badete. Als wir in unser Haus einzogen, Ende der fünfziger Jahre, hatte es noch nicht einmal ein Badezimmer gegeben. Dad saß zum Baden mit angezogenen Knien in einer Blechwanne im vorderen Zimmer, und Allie und ich rannten mit den Wasserkrügen zwischen der Wanne und dem Ofen hin und her.
Allie und ich blieben so lange wie möglich im Haus, um Mum mit der Vorstellung zu foltern, daß Jimmy auftauchen und entdecken könnte, daß wir beide schon Mitte Zwanzig waren. Mum sagte gerade: »Könnt ihr Burschen nicht mal woanders hingehen?«, als es klingelte. Die arme Mum erstarrte vor Schreck. Ich hätte nie gedacht, daß sie so weit gehen würde, aber sie sagte: »Ihr beide verschwindet jetzt durch die Hintertür.« Sie schob uns fast in den Garten hinaus und schloß hinter uns die Tür ab. Allie und ich kicherten, warfen uns einen Tennisball zu und liefen zur Vorderseite, um einen Blick durch die Fenster zu werfen, diese schwarz umrahmten »georgianischen« Fenster, die Mum hatte einsetzen lassen; seither sah das Haus von vorn wie ein Kreuzworträtsel aus.
Und da war er, Jimmy, der Ersatz für unseren Dad. Er saß neben Mum auf dem Sofa. Er war ein blasser Engländer, und das überraschte mich: Irgendwie hatte ich erwartet, daß ein Inder neben ihr sitzen würde. Ich fühlte mich enttäuscht, fast wie im Stich gelassen. Wahrscheinlich hatte sie genug von Indern. Jimmy war Ende Dreißig, wirkte sehr ernst und trug einen unauffälligen grauen Anzug. Wie wir gehörte er zur unteren Mittelklasse, sah aber hübsch und klug aus: wie einer von denen, die alle Schauspieler aus den Filmen von Vincente Minnelli beim Namen kennen und in Quizsendungen im Fernsehen auftreten, um es zu beweisen. Mum packte gerade sein Geschenk aus, als sie aufsah und die Gesichter ihrer beiden Söhne entdeckte, die sie durch die Stores anstarrten. Sie errötete, geriet kurz in Panik, hatte sich aber in Sekundenschnelle wieder gefaßt und beachtete uns nicht mehr. Wir verdrückten uns.
Ich wollte nicht direkt wieder nach Hause, also ging ich mit Allie in einen neuen Klub in Covent Garden, den ein Freund von ihm eingerichtet hatte. London hatte sich in zehn Monaten ziemlich verändert. Keine Hippies und keine Punks mehr: Statt dessen war alle Welt adrett angezogen, die Männer mit kurzen Haaren, weißen Hemden, legeren Hosen und Hosenträgern. Es war fast so, als säße man in einem Raum mit lauter George-Orwell-Doubles, nur daß Orwell keine Ohrringe getragen hätte. Allie erklärte mir, die meisten von ihnen seien Modedesigner, Fotografen, Grafiker oder Schaufensterdekorateure, allesamt jung und talentiert. Allies Freundin war ein Model, eine dünne Schwarze, die nichts weiter zum Gespräch beitrug als die Bemerkung, eine Rolle in einer Seifenoper könnte ja vielleicht zu besseren Angeboten führen. Ich sah mich nach jemandem um, den ich abschleppen könnte, aber ich war so einsam, daß man es mir bestimmt ansah. Ich war nicht cool genug für einen Flirt.
Ich verabschiedete mich von Allie und ging zurück in Fischs Wohnung. Eine Zeitlang hockte ich in seiner Höhle, lief auf und ab, hörte mir »Dropout Boogie« von Captain Beefheart an, bis es mich
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