Der Buddha aus der Vorstadt
ihm in seinen Schwanz gehaucht hätte. Er war mindestens ein Orson Welles. Und natürlich prägte dieses alte Wissen von seiner Erhabenheit heute seinen Charakter. Er war stolz, abweisend, unzuverlässig und, je nach Gutdünken, großmütig. Er konnte andere davon überzeugen, daß er bald aus seinem Kopf eine Dichtkunst herausschleudern würde, die die Welt in Erstaunen versetzen werde, so wie es auch die anderen englischen Jungs, Lennon, Jagger und Bowie, geschafft hatten. Wie Andre Gide, der, als er jung war, von Leuten erwartete, daß sie ihn für die Bücher bewunderten, die er in Zukunft schreiben würde, gefiel es Charlie, in einigen höheren Kreisen für sein Potential geschätzt zu werden. Aber er verdiente sich diese Wertschätzung mit seinem Charme, den man oft mit Können verwechselte. Mit seinem Charme konnte er sich bestimmt sogar selbst täuschen, dachte ich.
Was machte seinen Charme aus? Wie hatte er mich so lange umgarnen können? Ich hätte alles für Charlie getan, und in der Tat - in diesem Moment sortierte ich zwanzig Jahre seiner Habe aus. Mit dieser Anfälligkeit für ihn stand ich nicht allein da. Viele hätten ihm mit Ja geantwortet, noch bevor er sie um etwas gebeten hatte. Wie funktionierte das nur? Ich studierte die verschiedenen Spielarten des Charmes. Es gab charmante Menschen, die nur hinreißend waren; sie hatten am wenigsten Talent. Dann gab es jene, die Macht hatten, denen es jedoch an anderen Vorzügen mangelte; allerdings war Macht im Unterschied zu hübschen Wangen wenigstens etwas Selbstgeschaffenes. Dann gab es da noch jene, die bezwingende Redner waren, und an erster Stelle dieser Gruppe standen jene, die einen zum Lachen bringen konnten. Wieder andere ließen einen ihre Klugheit und ihr Wissen bewundern: Sie boten außer Leistung auch noch Unterhaltung.
Charlie hatte ein Quentchen von allem; er war ein Allroundtalent. Aber seine Stärke lag in der Fähigkeit, im anderen die Bewunderung für sich selbst zu wecken. Die Aufmerksamkeit, mit der er sich um dich kümmerte, wenn er sich um dich kümmerte, war absolut. Er wußte, wie er dich ansehen mußte, um dir den Eindruck zu geben, daß du der einzige Mensch warst, der ihn je interessiert hatte. Er fragte dich nach deinem Leben und schien jeden Moment eurer Unterhaltung zu genießen. Er war ein ausgezeichneter Zuhörer und dabei ganz ohne Zynismus. Das Problem war nur, daß ihm die Neurotiker in Scharen zuliefen. Niemand sonst wollte ihnen zuhören, aber Charlie hatte es - einmal vielleicht - getan, und sie konnten ihn nicht mehr vergessen; vielleicht hatte er auch mit ihnen geschlafen. Eva mußte sie von ihm fernhalten, indem sie sagte, wenn es sehr dringend sei, könnten sie ihm eine Nachricht dalassen. Und Charlie flüchtete aus dem Haus und kletterte über den hinteren Gartenzaun, während s ie den ganzen Tag am Vordereingang auf ihn warteten.
Nachdem ich Charlies Charme so lange beobachtet hatte, begann ich, seine Methode zu erkennen: Es war, wie w r enn man Häuser ausraubt, indem man die Besitzer so weit bringt, daß sie einen einladen und auffordern, alle ihre Besitztümer an sich zu nehmen. Es war zweifellos Raub; es gab Dinge, die er haben wollte. Und er nahm sie sich. Er manipulierte Menschen, was nicht richtig war, doch ich bewunderte ihn schrecklich. Ich machte mir Notizen über seine Technik, denn sie funktionierte, besonders bei Mädchen.
Letzten Endes war dies alles nicht gerade ungefährlich. Nein; Charlie gehörte zur grausamsten und tödlichsten Sorte der Verführer. Er holte sich nicht nur Sex, sondern auch Liebe und Treue, Freundlichkeit und Ermunterung, bevor er dann weiterzog. Ich hätte diese meisterlichen Fähigkeiten nur zu gern selbst angewandt, aber mir fehlte ein ganz entscheidendes Ingredienz: Charlies starker Wille und sein ungeheuer ausgeprägter Wunsch, alles in seinen Besitz zu bringen, woran er gerade Gefallen fand. Unterschätzen durfte man ihn nicht, er war äußerst ehrgeizig. Und weil er so nicht weiterkam, fühlte er sich frustriert. Er sah, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb, und letztlich spielte er doch nur in einer miserablen Rockband, die sich Mustn’t Grumble nannte und wie Hawkwind klang.
Seinen eigenen Väter, diese geduldige und traurige Gestalt, hatte Charlie kaum gesehen, als er noch bei seiner Mutter lebte. Wenn Charlie jetzt jedoch in Evas Haus wohnte, war er stundenlang mit meinem Vater zusammen, mit dem er über alles redete. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche
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