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Der Buddha aus der Vorstadt

Der Buddha aus der Vorstadt

Titel: Der Buddha aus der Vorstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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donnerten nach Charing Cross und dann hinaus nach East End, dem Viertel, in dem Onkel Ted aufgewachsen war. Anders als in den Vorstädten, in denen niemand Nennenswertes - außer H. G. Wells - je gelebt hat, kreuzte man hier ständig die Spuren der VIPs. Gandhi höchstpersönlich hatte einmal in einem Zimmer in West Kensington gewohnt, und in der nächsten Straße hatte sich der berüchtigte Vermieter Rachman eine Wohnung für die junge Mandy Rice-Davies gehalten; Christine Keeler hatte hier ihren Tee getrunken. IRA-Bombenleger lebten in winzigen Zimmerchen, trafen sich in Kneipen in Hammersmith und sangen zur Sperrstunde »Waffen für die IRA«. Und in der Nähe der U-Bahn-Station hatte früher Mesrine gewohnt. Endlich war ich also in London, und nichts machte mir mehr Spaß, als den ganzen Tag in meinem neuen Revier herumzuschlendern. London kam mir vor wie ein Haus mit fünftausend verschiedenen Zimmern; der ganze Reiz lag darin, zu entdecken, wie die Zimmer untereinander verbunden waren, und sie allmählich alle zu durchlaufen.
    Richtung Hammersmith lag der Fluß und an ihm die Kneipen mit ihren polternden Mittelklassesäufern; abgeschiedene Gärten säumten den Fluß entlang der Lower Mall und den schattigen Spazierweg über den Treidelpfad nach Barnes. In diesem Teil von Westlondon kam ich mir vor wie auf dem Land, bloß daß hier keine Kühe oder Bauern störten.
    Ganz in der Nähe lag das noble Kensington, wo die reichen Damen einkaufen gingen, und nach einem kurzen Spaziergang befand man sich in Earls Court, dem Viertel der baby- gesichtigen Huren und Strichjungen, die sich in den Kneipen gegenseitig die Freier Wegnahmen; hier traf man Transvestiten, verstörte Einzelgänger, Drogensüchtige und Trickdiebe. Da gab es kleine Hotels, die nach Sperma und Desinfektionsmittel rochen, australische Reisebüros, zwerggroße Bengalis in Läden, die die ganze Nacht über geöffnet hatten, Leder-Bars mit fetten Tunten, die einen Oberlippenbart trugen und vor den Türen geheime Signale austauschten, und man begegnete streunenden Fremden mit durchdringendem Blick und ohne Geld. In Kensington wurdest du nicht beachtet, aber in Earls Court starrte dich jeder an und fragte sich, was er aus dir herausholen konnte.
    West Kensington lag zwischen den Extremen: Hier legte man auf dem Weg nach oben eine kurze Pause ein, oder man blieb da, weil es einfach nicht mehr weiterging. Es war eine ruhigere Gegend mit wenigen, uninteressanten lüden; da gab es Restaurants, die mit optimistischen Einladungen und großem Trara eröffnet wurden, doch einige Wochen später sah man dann vor der Tür des Lokals den Besitzer stehen, der sich verzweifelt fragte, was er nur falsch gemacht hatte, und dem man ansah, daß er davon überzeugt war, zu seinen Lebzeiten würde sich dieser Bezirk nicht wieder erholen. Aber Eva ignorierte solche Augen; sie war der Meinung, daß sie aus diesem Kaff etwas machen konnte. »Diese Gegend hat es in sich«, prophezeite sie, während wir uns um die einzige Wärmequelle der Wohnung drängten, einen Paraffin-Ofen, über dessen Herdplatte sie Dads Unterhosen zum Trocknen drapiert hatte.
    Eine Ecke weiter war das Nashville, eine wahnsinnig berühmte Kneipe, ein Schuppen für Krawalle und Joints. Eichenbalken und gebogene Glasfenster in der Form einer Wurlitzer-Jukebox prangten an der Fassade, und Nacht für Nacht fetzte brandheiße Musik durch die Straßen von West Kensington.
    Eva hatte gewußt, daß die Gegend, in der die Wohnung lag, wie ein Magnet auf Charlie wirken würde, und als er eines Abends zum Essen und Schlafen auftauchte, sagte ich zu ihm: »Komm, laß uns ins Nashville gehen.«
    Charlie warf mir einen argwöhnischen Blick zu und nickte. Er schien ziemlich scharf darauf zu sein, die neuesten Bands kennenzulernen und zu sehen, was sich in der Musikszene so tat, aber seine Antwort kam zögernd. Später schien er seine Meinung geändert zu haben, denn er meinte: »Willst du nicht lieber irgendwoanders hin, wo es ruhiger ist? Wo wir reden können?« Seit Monaten war Charlie allen Konzerten und Auftritten aus dem Weg gegangen. Er hatte Angst, er könnte die Londoner Bands zu gut finden, so als fürchte er sich, auf eine derart talentierte und vielversprechende Gruppe zu stoßen, daß seine zerbrechlichen Hoffnungen und Ziele in einer schrecklichen Sekunde der Einsicht und Selbsterkenntnis explodieren und sich in nichts auflösen könnten. Ich selbst ging jeden Abend ins Nashville und war überzeugt, daß der

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