Der buddhistische Mönch
Mekong-Ufer (altes Kolonialgebäude, Ventilatoren, hohe Decken, alles hübsch renoviert, an den Wänden tolle Schnappschüsse vom Krieg). Vom Balkon aus beobachte ich am Fluss einen Jungen mit einem einfachen Karren, offenbar auf der Suche nach Touristen. Die darauf geschnallte Gestalt scheint ein Bruder oder anderer Verwandter zu sein. Der Junge küsst den missgebildeten Körper mit dem übergroßen Kopf mehrfach, streichelt ihn und zeigt ihn einem vorbeigehenden Westlerpaar mittleren Alters in schicker Freizeitkleidung, vielleicht Amerikanern. Der Junge und der Behinderte sind sehr höflich, das sieht man an ihrem Lächeln, den flehenden Blicken und dem tragischen Stirnrunzeln, aber die Botschaft lautet unmissverständlich: Wie viel ist es euch wert, diese Ikone des schlechten Gewissens nicht mehr anschauen zu müssen? Ein paar Dollar, soweit ich das aus der Ferne beurteilen kann. Nach einem peinlich berührten Blick setzen die beiden Amis ihren Spaziergang fort, während der Junge seinen Bruder in Richtung Mekong zurückschiebt. Was hätten wir sonst tun können? , scheinen die Touristen einander zu fragen; anständige Leute ertragen nicht sehr viel Realität.
»Um noch mal auf diesen Mönch, Damrongs Bruder, zurückzukommen«, sagt Kimberley und nimmt einen Schluck Bier. Über ihrem Mund bleibt ein weißer Schnurrbart, den sie mit dem Ärmel wegwischt.
Meine Gedanken kreisen im Moment ausnahmsweise nicht um den Mönch, sondern um Kimberley. Ich weiß, dass sie das erste Mal in Kambodscha ist, aber offensichtlich lässt ein Teilaspekt ihrer eigenen Kultur ihr den Müll hier vertraut erscheinen; in Kambodscha wirkt sie entspannter und selbstsicherer als in meinem Land. Sie trägt eine Armeehose sowie eine khakifarbene Weste mit tausend Taschen. »Hier ist alles möglich«, sagt sie begeistert. »Hältst du ihn für echt?«
»Ich denke schon. Jedenfalls kennt er sich mit der Technik der vipassana- Meditationaus. Nur durch sie wird man so merkwürdig.« Ich erzähle ihr von Phra Titanakas unvermittelten Persönlichkeitsveränderungen.
»Manisch-depressiv«, diagnostiziert sie. »Vielleicht vergisst er von Zeit zu Zeit das Lithium. Glaubst du, er war bei Kowlovski?«
»Sieht so aus, oder? Ein Elefantenhaararmband könnte man noch als Zufall abtun, aber zwei …«
»… sind eine Provokation. Er hat also irgendwie die Identität des Maskierten vor uns rausgefunden. Dachtest du nicht, er hätte die DVD nie gesehen?«
»Das behauptet er. Und Mönche lügen nicht.«
Verächtliches Schnauben von Kimberley, bevor sie einen weiteren großen Schluck Bier nimmt. Dann schüttelt sie den Kopf. »War Pol Pot nicht auch ein buddhistischer Mönch?«
»Tja, eine Weile. Aber offenbar passte das nicht so ganz zu seiner Persönlichkeit.«
»Ein buddhistischer Khmer-Mönch?«
Ich zucke mit den Achseln. »Es liegt auf der Hand, dass er es nicht getan hat – er gehört nicht zum Kreis der Verdächtigen.«
»Aber er scheint mehr über den Fall zu wissen als wir. Sonchai, warum versuchst du einen religiösen Fanatiker wie ihn zu schützen, den du nicht mal richtig kennst? Irgendwie ist er an Kowlovski rangekommen; alle Hauptverdächtigen erhielten Elefantenhaararmbänder von ihm. Könnte er seine Schwester verkauft haben und hinter dem Snuff Movie stecken?«
Ich sehe Kimberley ungläubig an. »Du kapierst nichts«, sage ich – für einen Thai eine ziemlich unhöfliche Antwort, aber Kimberleys gute Laune ist unerschütterlich.
»Was?«
» Gatdanyu. «
»Wie bitte?«
Ich hole tief Luft. Einem farang das gatdanyu- Konzept erläutern zu wollen, kommt dem Versuch gleich, einem Kopfjäger auf Sumatra die DNA-Helix nahe zu bringen – das Verständnis bleibt zwangsläufig oberflächlich.
Ich bemühe mich, die verborgene Struktur einer Gesellschaft zu erklären, die nur wenige Fremde als thailändisch erkennen würden: Unsere Vorfahren nahmen, zum ersten Mal mit dem Buddhismus konfrontiert, seine Botschaft der Großzügigkeit und des Mitgefühls begeistert auf, passten ihn aber so an die Realität an, dass er der menschlichen Natur gerecht wurde. Ihr Vorbehalt gegenüber dem neuen Glauben bezog sich auf seine mangelnde Rentabilität. Wie kann sich Großzügigkeit für alle lohnen? Indem man dafür sorgt, dass sie sich auszahlt. Folglich steht jeder Thai im Mittelpunkt eines weitläufigen Netzes moralischer Verpflichtungen, die nur mit dem Tod enden. Jede Gefälligkeit wird vor dem Hintergrund eines Referenzrahmens bewertet,
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