Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
bescherten dem Raum bloß wenig Helligkeit. Laetitia benötigte einige Zeit, sich an die dürftigen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ihr Blick glitt hinab zum Boden. Sie starrte auf die Stelle, an der sie den Sterbenden gefunden hatte. Nichts mehr wies auf den Mord hin, lediglich ein Fleck, der dem flüchtigen Betrachter nicht auffiel und sich bloß dem Wissenden als Überrest von Burkhards Blut zu erkennen gab. Aus Scheu damit in Berührung zu kommen, presste sie sich dicht an den Tisch gedrängt vorbei hin zur gegenüberliegenden Wand.
»Und nun an die Arbeit«, murmelte sie, während sie die Schranktüren öffnete, deren Scharniere quietschten. Sie musste die Zeit nutzen, bevor der Knecht zurückkehrte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie schwierig eine Suche fiel, ohne eine genaue Vorstellung davon, wonach man eigentlich suchte. Was wollte sie hier entdecken? Spuren, die der Mörder hinterlassen hatte? Nein, da es weder Tatzeugen noch Hinweise auf die Tatwaffe gab, verdichtete sich in ihr die Überzeugung, dass sie genau umgekehrt vorgehen und stattdessen Spuren des Ermordeten auswerten musste. Gegenstände, die ihn zu Lebzeiten umgeben hatten und nach seinem Tod von ihm erzählten.
Was wusste sie überhaupt von Burkhard? Bislang einzig, dass er über sagenhaften Reichtum verfügte, ein Umstand, dem sie wenig Bedeutung beimaß. Schließlich war in der verwünschten Nacht nichts gestohlen worden, wie Burkhards Knecht in der Stadt herumerzählt hatte – außer den Briefen natürlich. Laetitias Finger tasteten über einen Stapel Papiere, den sie vorsichtig aus dem Schrank nahm. Als erste bemerkenswerte Tatsache stellte sie fest, dass sich trotz Burkhards Reichtum nirgendwo ein Buch oder wenigstens ein Auszug aus der Bibel fand. Unzählige vergilbte, verstaubte, aber auch ganz neue Aufzeichnungen über seine kaufmännischen Unternehmungen türmten sich aufeinander, jedoch keine einzige religiöse Schrift. Dies erwies sich als der erste Schwachpunkt in ihren vorherigen Überlegungen: Ihre Annahme, Burkhard sei vielleicht ein Anhänger der Thesen des Petrus Abaelardus oder zumindest mit ihnen vertraut gewesen, sah sie eindeutig widerlegt. Nein, der Grund, warum Burkhard die Briefe in Chalon an sich gebracht hatte, musste ein anderer sein.
Eine seltsame Berührung am Rücken ihrer rechten Hand ließ Laetitia zusammenzucken. Was war das? Ihr Herz pochte heftig gegen die Rippen, aber es war nichts anderes als eine langbeinige Spinne, die über ihre Haut krabbelte. Nun, da sie die Ursache wusste, wurde sie wieder ruhiger. Die Spinne entzog sich, indem sie sich unter einer breiten Holzschatulle verkroch. Laetitias Augen blitzten auf. Die Schatulle war mit feinstem Gold beschlagen und wirkte wie der verschwiegene, edelmütige Hüter eines geheimnisvollen Schatzes. Neugierig zog sie die Schatulle hervor und öffnete mit angehaltenem Atem deren Verschluss: Eine rot umschnürte Pergamentrolle kam zum Vorschein. In Windeseile streifte Laetitia das Band ab und nestelte das Schriftstück auf. Verblüfft schaute sie darauf: Das Pergament erwies sich als eine Zeichnung von Trier, die wie aus der Perspektive eines Vogels, der die Stadt überflog, gezeichnet war. Laetitia konnte die Mosel erkennen, deren blaues Band sich am Fuß der Weinberge entlangwand und über das sich die Brücke spannte, die noch aus der Zeit der Römer stammte. Das Tor inmitten der Brücke, mit dem sich Trier nach Westen hin verteidigte, war mit gestrichelten Pfeilen versehen, die sowohl stadtein- als auch stadtauswärts wiesen. Daneben fanden sich eigentümliche Anmerkungen wie ›Sichtweite bei Nebel achtzig Fuß‹ oder ›Hörweite Pferdegetrappel auf Erde‹ und ›Hörweite Pferdegetrappel auf Holz‹.
Laetitia ließ das Pergament gleichermaßen enttäuscht wie verwundert sinken. Welche Bedeutung hatten diese seltsamen Kommentare? Was zum Teufel hatte Burkhard mit dieser Skizze anfangen wollen und vor allem: Wieso hatte er ihr derart viel Bedeutung beigemessen, dass er sie eigens in einer goldbeschlagenen Schatulle verwahrte? Laetitia schüttelte den Kopf und legte das Pergament zurück an seinen Platz. Dabei fiel ihr Blick auf ein Oval aus Silber, das aus einem fein bestickten Stoffetui hervorlugte. Vorsichtig nahm sie es heraus. Es handelte sich bei dem Stück, das etwa die Hälfte ihrer Handfläche einnahm, zweifellos um ein Meisterwerk der Silberschmiedekunst. Ein Amulett, in dessen Mitte reliefartig eine Lanze eingearbeitet war, umgeben von einem
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