Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
ablegten als ein Mensch. Schließlich konnten leblose Dinge weder lügen noch heucheln. Bruchstückhafte Hinweise zu einem Ganzen zusammenzufügen, dürfte nicht einfach werden. Sie musste bei der Suche nach wertvollen Spuren daher achtgeben, scheinbare Nebensächlichkeiten in Betracht zu ziehen. Sie könnten sich später als wertvoll erweisen.
Laetitia erreichte den Konstantinplatz. Hoch über dem Turm der Laurentiuskirche ragten stolz die als unzerstörbar geltenden Mauern der Basilika auf, die sich der große Kaiser Konstantin vor vielen Hunderten von Jahren als Thronsaal erbauen ließ. Damals regierte er ein Imperium, dessen Grenzen sich bis an das Ende der Welt erstreckten, von Trier aus. Hier, an dieser Stelle lag zu jener Zeit das Zentrum der größten irdischen Macht, ging es Laetitia voller Ehrfurcht durch den Kopf und sie blieb stehen. Gewiss hatte der Erzbischof eine kluge Entscheidung getroffen, die Konstantinbasilika als Residenz zu wählen. Nicht nur, weil sie dem Betrachter wie kaum ein zweiter Bau nördlich der Alpen Respekt einflößte, sondern weil sie den größtmöglichen Schutz vor militärischen Angriffen bot. Laetitia betrachtete die Umrisse der riesigen römischen Fenster, die zugemauert und durch kleinere ersetzt worden waren, damit sie einen Pfeilbeschuss erschwerten. Festungsähnliche Zinnen, hinter denen sich ein Waffengang entlangzog, bewehrten nicht nur die im Norden liegende Apsis, sondern das gesamte Gebäude, an dessen Ecken sich vier Türme befanden, über die man das Dach erreichen konnte. Noch zweimal wandte sich Laetitia, die sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, um. Dann bog sie in die Straße ein, die auf Burkhards vornehmes Anwesen zulief.
Aus einem der Nachbarhäuser drang geschäftiges Klappern und es roch nach einer mit frischen Kräutern zubereiteten Suppe. Zwei Mädchen, deren Zöpfe wild um ihre Köpfe baumelten, rannten unter fröhlichem Gelärme über das Pflaster. Alles gab den Anschein, dass sich der Alltag wieder hier eingefunden hatte. Dennoch war Laetitia felsenfest davon überzeugt, dass jeder Fremde mit Argwohn beäugt wurde, sobald er einen Fuß in diese Straße setzte. Ihren Schritt verlangsamend verfiel sie in ein unauffälliges Schlendern, während unter ihren Füßen gelbes Herbstlaub raschelte. Sie gab vor, gelangweilt einem Schwarm Stare nachzuschauen, der sich wie die Spitze eines Pfeils formiert hatte. Dann ließ sie ihren Blick unauffällig entlang der Häuser in der Nachbarschaft gleiten. Enttäuscht stellte sie fest, dass man mühelos von jeder Stelle der gesamten Straße auf Burkhards Eingangstür sehen konnte. Ihre Absicht, unbeobachtet hineinzugelangen, konnte Laetitia demnach getrost begraben. Aber so schnell wollte sie nicht aufgeben. Tatsächlich fanden sich an der Seite des Hauses zwei mit hölzernen Laden verschlossene Fenster, die nicht im Sichtfeld der Nachbargebäude lagen.
Laetitia hob lauschend den Kopf: Bloß die Räder eines Karrens klapperten über das Pflaster und in der Ferne schlug ein Hund an. Sie spähte durch einen Spalt im Fensterladen, dessen Holz einen intensiven Harzgeruch verströmte, doch konnte sie nichts ausmachen. Es half nichts, sie würde einbrechen müssen. Auf der Suche nach einem geeigneten Hilfsmittel wurde sie rasch fündig. Sie hob einen faustgroßen Stein auf, öffnete den knarrenden Holzladen, warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und zerbrach kurzerhand eine der kleinen, grünlichen Fensterscheiben. Hoffentlich hatte das Geräusch nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn geweckt. Flink griff Laetitia durch die entstandene Öffnung und entriegelte das Fenster.
Mit einem Gefühl von Bangigkeit, in das sich eine sonderbare Abenteuerlust mischte, kletterte sie durch den Fensterrahmen und zog den knarrenden Holzladen hinter sich zu. Der Duft von Rosen hing in der Luft. Laetitia erinnerte sich, dass Burkhard nicht allein mit edlem Tuch gehandelt, sondern dem Adel und den reichen Bürgern auch wohlriechende Öle verkauft hatte, die er aus dem Orient bezog. Obwohl nach seinem Tod natürlich die gesamte Ware aus dem angrenzenden Lager zum Schutz vor Dieben an einen sicheren Ort verbracht worden war, durchzog das Haus noch immer ein Blumenodeur. Angesichts des Schrecklichen, was sich hier zugetragen hatte, mutete Laetitia die Süße des Rosendufts grotesk an, als wollte das Haus trotz des Todesfalls Leben heucheln.
Feine Strahlen, kaum dicker als Spinnfäden, drangen durch die geschlossenen Fensterladen und
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