Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
einem Poltern, Krachen und Fluchen, das den Sturz des Angreifers begleitete. Bloß weg hier, durchzuckte es Laetitia. Diese Chance schenkte ihr das Leben noch. Flugs zog sie ihr linkes Bein durchs Fenster hinaus auf das Gerüst, tat einige Schritte auf knarrenden Dielen und rutschte schließlich die Rampe hinab, die bei Tag dem Transport des Baumaterials diente. Unten angekommen, schmerzten ihre Handflächen wie von Nesseln verbrannt.
Aus der Kirche drang monoton der Gesang der Mönche, als wäre nicht das Geringste geschehen. Laetitia fing an zu rennen, ohne zu wissen, wohin, strauchelte, rappelte sich auf, lief weiter. Fort, nur fort von hier. Vor ihr tauchte das Tor in der Mauer auf, das die Abtei gegen Gefahren von außen schützen sollte, doch heute hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Dort draußen konnte der übelste Wegelagerer ihr keinen solchen Schrecken einjagen, wie ihn Laetitia soeben durchlebt hatte. Vor den Stallungen hörte sie ein Knirschen wie Hufe auf Kieseln. Sie fuhr herum und sah einen Reiter, der gerade vom Pferd absitzen wollte. Gebannt starrte sie auf den Mann. Trotz der Dunkelheit hätte sie die Silhouette dieses Reiters überall erkannt, unter Hunderten, Tausenden anderen und in der schwärzesten Hölle.
»Sebastian«, wisperte sie erleichtert. Noch einmal beinahe tonlos: »Sebastian.«
Ihr war zumute, als überzögen den Himmel die strahlendsten Sterne. Wenn es Sebastian war, der sich gerade vom Pferd geschwungen hatte, hörte der Gegner, der ihr soeben im Finsteren ans Leben wollte, auf einen anderen Namen. Erleichtert lief sie auf Sebastian zu, den ihre Fußtritte aufschreckten. Er wandte sich um, gerade noch rechtzeitig, um die Arme auszubreiten und sie aufzufangen. Seine Hand strich ihr über das Haar. Dann löste sie sich von ihm.
»Los, weg, wir müssen weg. Schnell, ich erzähle Euch nachher, was geschehen ist.«
»Verzeiht, mein Pferd, es lahmte, ich musste ein anderes Pferd … Was ist denn geschehen?«
»Nein, nein, bitte, bringt mich hier weg, sofort.«
Sebastian schwang sich aufs Pferd, zog Laetitia zu sich in den Sattel und bald schon ging es in Richtung Mosel. Erst als sie das Ufer erreichten, saßen beide ab. Das Rauschen des Wassers wirkte wohltuend auf Laetitias Sinne und sie beruhigte sich etwas.
»Ach, wenn Ihr wüsstet, was mir soeben geschehen ist. Und sogar Euch hatte ich im Verdacht. Niemand kann sich vorstellen, wie erleichtert ich bin«, brach es aus ihr heraus, nachdem sie mit den aufgeriebenen Händen etwas Wasser geschöpft und getrunken hatte. Die wunden Stellen in ihrer Haut verursachten höllische Schmerzen, doch das war nicht wichtig. Es zählte einzig, dass Sebastian bei ihr war. Er, der ihr Vertrauen zurückgewonnen hatte und ihr beistand.
»Mich hattet Ihr im Verdacht? Wessen habt Ihr mich verdächtigt?«
»Nun, irgendwie wegen allem. Weil ich mich so fürchtete und weil mir alles wild im Kopf umherwirbelte und dann dieser Turmfalke, den ihr im Wappen führt!«
»Der Falke?« Sebastian starrte sie verständnislos an.
»Na ja, Burkhards letztes Wort lautete doch ›Tour‹ und ich dachte vorhin, er könnte Euer Wappentier gemeint haben.«
»Tur? Wieso hat er Lateinisch mit Euch gesprochen?«
»Nein, nicht Lateinisch, sondern Französisch. Auf Französisch lautet der Begriff genau wie im Lateinischen.«
»Das ist ebenso absurd, denn Burkhard sprach kaum ein Wort Französisch. Er hasste diese Sprache. Wenn ihn eine seiner Handelsreisen nach Westen führte, wäre er allein vollkommen verloren gewesen. Nie wäre er ohne die Begleitung eines seiner Bediensteten, der das Übersetzen für ihn übernahm, nach Burgund, Anjou oder in die Champagne aufgebrochen.«
Laetitia stockte. Warum hätte ein Sterbender unter Aufwendung seiner dahinschwindenden Kräfte sein letztes Wort in einer fremden Sprache über die Lippen bringen sollen? Und dass Burkhard nicht ›Turm‹, sondern ›Tour‹ gesagt hatte, würde sie auf der Bibel schwören. Eigentümlich, dafür fand sie keine Erklärung. Dann traf es Laetitia wie ein Blitz. Was, wenn Burkhards letztes Wort gar nicht ›Tour‹, sondern ›Tours‹ gelautet hatte? Die Aussprache unterschied sich nicht. Sekunden stand Laetitia reglos da. Gütiger Gott, wie töricht sie gewesen war, wie unsagbar und unentschuldbar töricht! Nur weil sie sich mittlerweile in der französischen Sprache zu Hause fühlte, hatte sie Burkhards letztes Wort mit ›Turm‹ gedeutet, dabei hatte er womöglich von ›Tours‹
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