Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
rutschte über den Boden. Benommen blieb er liegen. Er setzte sich wieder auf und rieb sich das Kinn. Blut strömte aus einem tiefen Riss.
»Nun, kleiner Mann, hast du immer noch Mühe zu glauben, dass ich existiere?«
»Ich … nein, wohl nicht.«
»Das ist auch besser so. Seran glaubt an mich, auch wenn er mich enttäuscht hat. Und deine Freunde hinter der Tür dort, die glauben wohl auch an mich.« Die Stimme des Drachen in seinem Kopf war lauter als zuvor. Hirad stand auf und näherte sich dem Geschöpf wieder. Er schüttelte den Kopf, um den Nebel loszuwerden, der ihn einhüllte.
»Ja, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen.« Hirad schlug das Herz bis zur Kehle. Der Drache machte ein neues Geräusch. Es mochte ein Lachen sein, doch dieses Mal klang es irgendwie geringschätzig.
»Immerhin hast du meine Existenz infrage gestellt«, sagte der Drache. »Du hast freilich Glück, dass man mich nicht so leicht beleidigen kann. Oder vielleicht hast du auch
Glück, weil ich deine Existenz nicht infrage stelle.« Hirad bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen und nachzudenken, doch es schien keinen Ausweg zu geben. Die einzige Frage war, wie lange er noch am Leben blieb, bevor der Drache es leid war und ihm das Lebenslicht ausblies.
»Ja.« Hirad zuckte mit den Achseln und war bereit zu sterben. »Aber du musst doch verstehen, dass ich mit allem Möglichen gerechnet habe, nur nicht mit dir, als ich diesen Raum betreten habe.«
»Ach.« Belustigung hallte in Hirads Kopf. »Dann habe ich dich also enttäuscht. Vielleicht sollte ich mich bei dir entschuldigen.« Der Drache lachte wieder. Leiser dieses Mal, eher nachdenklich als heiter.
Neben Hirads linkem Ohr raschelte es, dann flüsterte eine kaum vernehmbare Stimme:
»Lass dir nichts anmerken und sage nichts. Ich bin Denser, der Mann, den du verfolgt hast, und ich will dir helfen.« Er hielt inne. »Wenn ich sage, dass du losrennen sollst, dann rennst du, so schnell du kannst. Widersprich mir nicht und sieh dich nicht um.«
»Und nun kleiner Mann, kannst du mir eine Frage stellen.«
»Was?« Hirad blinzelte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Drachen. Er wunderte sich, wie er auch nur für eine Sekunde vergessen konnte, dass das Ungeheuer vor ihm lag.
»Frage mich. Es muss doch etwas geben, das du über mich wissen willst.« Der Drache zog den Kopf ein wenig zurück, und der Hals beschrieb vor dem riesigen Körper einen weiten Bogen.
»Also gut. Warum hast du mich nicht getötet?«
»Weil die Tatsache, dass du dein Schwert weggesteckt hast, dich von allen anderen Menschen, die mir begegnet
sind, unterschieden hat. Dadurch bist du interessant geworden, und nur wenige Menschen sind interessant.«
»Wie du meinst. Aber was tust du hier?«
»Ich ruhe aus. Ich erhole mich. Hier bin ich sicher.«
Hirad runzelte die Stirn. »Sicher wovor?« Der Drache regte sich. Er setzte die Hinterbeine ein wenig weiter auseinander, legte den Kopf wieder vor Hirad auf den Boden und sah ihm tief in die Augen. Er blinzelte langsam.
»Auf meiner Welt herrscht Krieg. Wir vernichten unsere Länder, und es ist kein Ende abzusehen. Wenn wir uns erholen und wieder zu Kräften kommen müssen, benutzen wir Zufluchtsorte wie diesen.«
»Und wo genau sind wir hier?« Hirad sah sich in der riesigen Kammer mit der hohen Decke um.
»Immerhin bist du klug genug zu erkennen, dass du dich nicht mehr in deiner eigenen Dimension befindest.«
»Ich habe leider keine Ahnung, was du mit Dimensionen meinst. Ich weiß nur, dass es auf Burg Taranspike keinen Raum von diesen Ausmaßen gibt.«
Der Drache kicherte wieder. »So einfach ist das für dich. Wenn du nur wüsstest, wie viel Mühe es erfordert hat, damit du hier stehen kannst.« Er hob den Kopf ein wenig und schüttelte ihn. Dabei schloss er die Augen, und er hielt sie geschlossen, als er weitersprach. »Nachdem du Serans Zimmer verlassen hattest, hast du ein Ankleidezimmer betreten. Dieses Zimmer liegt in keiner bestimmten Dimension, so wenig wie das Gebetszimmer, das du ebenfalls gesehen haben musst. Wenn du möchtest, dann kannst du es dir als eine Art Korridor zwischen den Dimensionen vorstellen, zwischen deiner und meiner. Es kann nur existieren, wenn die Struktur deiner Dimension intakt bleibt.« Jetzt kam der Kopf wieder näher, und die Drachenflügel stützten sich ein wenig auf den Boden, um die abrupte Bewegung
auszugleichen. »Meine Brut dient als Beschützer für eure Welt. Wir sorgen dafür, dass keine
Weitere Kostenlose Bücher