Der Bund des Raben 01 - Dieb der Dämmerung
weil die Tiere etwas spüren, aber nichts sehen konnten. Sie war mit einer fließenden Bewegung wieder auf die Beine gekommen und in den Wald gerannt. Dort hatte sie noch einmal die Richtung gewechselt und war tiefer und tiefer in den Wald eingedrungen, bis die Geräusche der Verfolger leiser wurden.
Mehrere Stunden später, als die Abenddämmerung kam,
hielt sie eine Kommunion mit Styliann, bevor sie in einem dichten Gebüsch, in dem sie für ihren schlanken Körper etwas Platz geschaffen hatte, in tiefen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen erwachte Selyn, als das Sonnengesprenkel auf ihrem Gesicht spielte. Es war still im Wald bis auf die natürlichen Geräusche. Kein Lüftchen regte sich, und es wurde rasch warm. Sie machte ein Lagerfeuer und entzündete es, bevor sie ein Kaninchen aus der Schlinge holte, die sie am Vorabend gelegt hatte. Geübt zog sie das Tier ab und spießte es auf, um es zum Frühstück zu essen. Weniger als eine Stunde später war sie schon wieder unterwegs.
Im Nordwesten, also in der Gegend, in die sie reisen wollte, wimmelte es vor Überfallkommandos der Wesmen, die Einheimische suchten, die sie unterwerfen konnten, während sie nach passendem Gelände für Stützpunkte Ausschau hielten. Lager auf Lager sah sie auf ihrer heimlichen Reise. Die Wesmen richteten sich ruhig und umsichtig ein, und sie wunderte sich über den offenkundigen Mangel an Eile. Es war, als warteten sie auf irgendetwas. Sie hatte Angst herauszufinden, was es war.
Als der erste Nachmittag ihrer Reise in die Torn-Wüste in die Abenddämmerung überging, kam die Angst mit Macht. In Parve würde sie gewiss den Beweis dafür finden, dass Balaia Chaos und ein ausgedehnter Krieg drohten, wie es ihn seit mehr als dreihundert Jahren nicht mehr gegeben hatte – seit der Zeit, als die Wesmen das letzte Mal eine Invasion versucht hatten. Sie konnte nur hoffen, dass sie Styliann genügend Informationen übermitteln konnte, ehe sie gefasst und getötet wurde. Denn wenn Styliann Recht behielt, dann würde sie die Stadt der Wytchlords nicht mehr verlassen können.
Das Gefühl der Angst wich rasch einem Gefühl des Verlustes,
und eine Zeit lang war sie verzagt. Sie wusste, dass sie am besten jeden Gedanken daran, nach Xetesk zurückzukehren, weit von sich schieben sollte. Solche Gedanken konnten ihr Urteil trüben und dazu führen, dass sie übervorsichtig vorging. Sie ersetzte diese Sehnsucht durch den kalten Ehrgeiz, sich über jeden Zweifel hinaus als Xetesks beste Magier-Spionin zu beweisen. Sie selbst hatte stets an ihre Fähigkeiten geglaubt, doch andere hegten durchaus Zweifel, und zwar einfach nur, weil sie eine Frau in einem von Männern dominierten Orden war.
Abgesehen von der Aussicht, in den eigenen Reihen gepriesen zu werden, bekam sie nun auch die Chance, das höchste Opfer für den Ruhm Xetesks zu leisten. Vielleicht konnte sie sogar den Verlauf des Krieges beeinflussen, der unweigerlich kommen musste.
Ihre Entschlossenheit kehrte zurück, und sie konzentrierte sich nur noch darauf, ihre innere Stärke aufzubauen.
Geschmeidige und dennoch kräftige Lederstiefel bedeckten ihre Füße und Waden, das matte Dunkelbraun verschmolz mit den Schatten im Wald. In jedem der Stiefel steckte ein Dolch in einer Scheide. Gesprenkelte grüne Hosen und eine ebensolche Jacke vervollständigten ihre Tarnkleidung.
An den Händen trug sie schwarze Handschuhe, eng anliegend und mit aufgenähten Griffflächen an den Fingerspitzen und Handflächen. Verborgen unter den Ärmeln ihrer Jacke und denen des braunen Wollhemds war mit jedem Handgelenk ein Federzug verbunden, der einen gekerbten Bolzen abschießen konnte. Im Nahkampf war die Waffe nützlich, doch sie hatte keine große Reichweite. Drei weitere Dolche hingen neben einem Satz Dietriche am Gürtel. Auf dem Rücken und unter der Jacke trug sie ein Kurzschwert in einer Scheide.
Kopf und Hals hatte sie in ein langes Halstuch gehüllt. Wenn sie es sich bei verdeckten Aktionen umband, blieben nur die großen braunen Augen frei. Das schwarze Haar trug sie kurzgeschnitten, die Fingernägel waren kurz, aber scharf, und auch ihre Füße waren in bester Ordnung. Sie war schlank und doch kräftig gewachsen, hatte lange Beine und kleine Brüste. Man sah ihr sofort an, wie beweglich und schnell sie sein konnte.
Schnell und erfolgreich war sie vor allem, weil sie so klug war, nur dort einzudringen, wo sie nicht entdeckt werden konnte. Herauszukommen, sobald das Mana ausging, das war das
Weitere Kostenlose Bücher