Der Bund des Raben 03 - Kind der Dunkelheit
Erdbeben, einen Wirbelsturm, Überschwemmungen und Flutwellen an der Küste erlebt. Stell dir vor, dass so etwas, hundertfach schlimmer, in ganz Balaia geschieht. Wenn Lyanna den Al-Drechar entzogen wird und in ihre unergründliche Nacht stürzt, wie es unweigerlich geschehen muss, dann wird es so weitergehen, bis sie stirbt. Deshalb werden die Dordovaner sie töten.«
»Und wir – oder besser du … du kannst sie kontrollieren?« , fragte Hirad. Er hatte sich beruhigt, weil Densers Worte ihre Wirkung zeitigten.
»Ja, das sage ich doch«, sagte Denser. Seine Stimme klang wieder besorgt. »Aber wir müssen sie schnell erreichen. Die Al-Drechar können sie nicht mehr lange abschirmen, wie die chaotischen Ausbrüche zeigen. Immerhin lässt die Tatsache, dass Erienne Lyanna allein gelassen hat, darauf schließen, dass die Al-Drechar nach Eriennes Meinung im Augenblick noch dazu fähig sind.«
»Aber sie weiß nicht, wie viel bisher schon passiert ist«, wandte Ilkar ein.
»Ich denke, die Al-Drechar wissen Bescheid«, erwiderte
Denser. »Wichtig ist vor allem, dass Lyanna nicht den Dordovanern in die Hände fällt, weil das eine Katastrophe wäre. Sie würden entweder versuchen, sie zu kontrollieren und dabei scheitern, weil sie Lyannas Kräfte nicht verstehen; oder sie töten sie, weil sie Angst vor ihr haben. Ich muss zu meiner Frau. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Hirad wollte etwas sagen, doch dann sah er die Sorge in Densers Augen flackern und beschloss, wortlos seinen Kaffee zu trinken. Was er hätte sagen können, wäre ohnehin nur eine Provokation gewesen. Vielleicht ein andermal.
»Wir müssen uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren«, sagte der Unbekannte. »Denser, halte die Kommunion. Wenn du Erienne erreichst, dann empfiehl ihr, in der Bucht zu ankern. Wir können an der Flussmündung entlangreiten, bis wir sie gefunden haben. Hirad, überprüfe die Pferde. Ilkar, ich muss mit dir reden.«
»Stimmt etwas nicht, Unbekannter?«, fragte der Julatsaner.
»Nein, alles klar«, sagte der Unbekannte, doch sie konnten sehen, dass sein Blick in die Ferne ging.
Hirad zuckte mit den Achseln und ging zum Bach. Sein Zorn ließ nach, und schließlich lächelte er sogar. Die Pferde wirkten entspannt und bereit und grasten zufrieden. Er tätschelte einem Pferd den Hals, strich mit der Hand die Vorderbeine hinunter und spürte die festen Muskeln und Knochen.
Sein Lächeln wurde breiter. Auch wenn sie seit fünf Jahren nicht mehr zusammen geritten waren, wenn der Unbekannte sprach, dann hörten sie zu. Allein das, überlegte er, gab ihnen in den kommenden Tagen den Hauch einer Chance. Und es klang ganz danach, als brauchten sie jeden Hauch, den sie nur bekommen konnten.
15
Selik lehnte sich in seinem dick gepolsterten, rot und golden bestickten Sessel in einem Privatzimmer des Hafengasthofs bequem an und gestattete sich ein Lächeln. Für ihn fühlte es sich jedenfalls wie ein Lächeln an, auch wenn es völlig humorlos war. Ein fremder Betrachter hätte nur eine groteske Grimasse gesehen.
Auch er selbst hätte seine Stimmung freilich nicht als »glücklich« beschrieben. Eine bittere Zufriedenheit vielleicht, ein Nachlassen des brennenden Hasses im Wissen, dass er bald schon Rache üben und den Hass endgültig besänftigen konnte.
Aber Glück – nein, das war es nicht. Das war eine Emotion, die er nicht mehr kannte, seit das Miststück ihn vereist hatte. Schwächere Männer wären daran gestorben. Seine Stärke und sein Brustharnisch hatten ihm das Leben gerettet, als der Eiswind ihn traf. Seine Hände und das Gesicht waren nicht so gut geschützt gewesen, und er hatte das Stigma sechs lange Jahre getragen und auf seine Chance gewartet.
Jetzt wurde sie ihm geboten.
Gorstan hatte ihm die guten Nachrichten verkündet, als sie am Ausgang der Bucht von Arlen standen. Er war eilig in die Stadt geritten, um Schiffe und Besatzungen zu requirieren und Vorräte zu kaufen. Doch eine bohrende Ungewissheit war geblieben. Es war eine Sache zu wissen, wo die Hexe und ihre Missgeburt von Tochter sich versteckten. Aber es war eine ganz andere, durch die berühmten, gefährlichen Felsen und Korallenriffe den richtigen Weg zu finden. Dort konnte man viele Männer verlieren, und er wusste nicht, wie viele, wenn überhaupt, zu verlieren er sich erlauben konnte.
Er hatte den Magier entlassen, der ihm die neuesten, noch viel besseren Nachrichten überbracht hatte, und saß jetzt allein vor dem offenen Kamin. Ein Teppich lag
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