Der Bund: Dunkle Götter 2 (German Edition)
doch trotz dieser Tragödie fiel es Royce schwer, Mitgefühl zu entwickeln. David beklagte sich zu oft und neigte dazu einzuschlafen, wenn er nicht weiterredete. Royce war es allerdings lieber, wenn der Mann schlief, weil er dann wenigstens nicht unablässig jammerte. In einer Schmiede käme er nicht zurecht , dachte Royce bei sich.
Die Nacht wurde dunkler. Der Mond stand nicht am Himmel, und unter der Wolkendecke würde es bald stockfinster sein. Zwanzig Schritte vor dem Tor hing eine Laterne an einem Pfahl und spendete mehr oder weniger das einzige Licht in der Umgebung. Es war Joe McDaniels Idee gewesen, die Laternen ein Stück entfernt aufzuhängen, damit sie das Gelände beleuchteten – und nicht nur die Wächter auf ihrem Posten.
Royce versetzte dem anderen Mann einen Stoß. David war gerade wieder eingenickt. »Komm, es ist Zeit, das Tor zu schließen.« Auf dem Wall wirst du ohnehin besser schlafen , dachte er unfreundlich.
»Na gut, ich bin es sowieso leid, hier draußen herumzustehen«, erwiderte Tanner, hob den Speer, drehte sich um und wollte nach drinnen gehen. Ein dritter Mann, Sam Turner, stand neben der Alarmglocke. »Hilf mir mal mit den Toren, Sam«, sagte Tanner.
Gerade als Royce sich ebenfalls umdrehen und den beiden folgen wollte, hörte er ein Geräusch. Nachdem er jahrelang im Wald des Herzogs Hirsche gejagt hatte, besaß er scharfe Ohren. Das Geräusch stammte nicht von einem Reh. »Wer ist da?«, rief er.
Sam hatte den einen Torflügel bereits ganz, David hatte den zweiten zur Hälfte geschlossen. Sobald sich die beiden Torflügel in der Mitte trafen, würden sie den schweren Riegel in die Halterung werfen und den Zugang versperren können. Als sie Royce’ Ruf hörten, hielten sie jedoch inne. Sam blickte hinaus und sah Royce, der sich langsam zum Tor zurückzog. Aus der Dunkelheit näherte sich eine kleine Gestalt, die in dem schlechten Licht allerdings nicht gut zu erkennen war. »Royce, soll ich das Tor für jemanden aufhalten?«, fragte Sam.
Royce hatte die Person, die sich ihnen näherte, bereits erkannt. Es war Rebecca Miller, die dritte Vermisste. Sie war vor fast drei Wochen verschwunden. Inzwischen war Royce allerdings über Mordecais Begegnung mit dem, was aus Sady Tanner geworden war, im Bilde. Er wich immer weiter zur Lücke zwischen den Torflügeln zurück. »Nein, Sam. Ich glaube, wir sollten das Tor versperren, sobald ich drinnen bin.« Dabei ließ er das dreizehnjährige Mädchen, das sich ihnen unbeirrt näherte, nicht aus den Augen. Noch zwei Schritte, und er wäre in Sicherheit. Rebecca war nur noch vier Schritte entfernt.
Sam entging nicht, wie angespannt Royce war. Dies und die Tatsache, dass er sich nicht einmal zu ihnen umdrehte, verriet ihm alles, was er wissen musste. David Tanner war dagegen etwas begriffsstutzig. Als er sich einschaltete, war das Mädchen im Fackelschein bereits gut zu erkennen. »He, wartet mal! Ist das nicht Rebecca Miller?« Er wollte schon hinaustreten, doch Sam hielt ihn an der Schulter fest.
»Warte, David«, warnte ihn Sam.
»Lasst ihr mich rein? Ich bin so hungrig und habe seit Tagen nichts gegessen«, flehte das Mädchen mit seltsam monotoner Stimme.
»Wie heißt du, Kleine?«, fragte Royce. Er war nicht weiter zurückgewichen, weil inzwischen klar war, dass er das Tor nicht schließen konnte, solange sie die Identität des Mädchens nicht geklärt hatten.
»Ich erinnere mich nicht. Wollt ihr mir nicht helfen?«, antwortete sie. Sie hatte ihn schon fast erreicht und wäre sogar noch näher gekommen, hätte Royce nicht den Speer gesenkt und auf ihre Brust gezielt.
David schüttelte Sams Hand ab und trat hinaus. »Das ist Rebecca. Verdammt, Royce, nun bedroh sie doch nicht. Sie ist ja nur ein Mädchen!« Er stieß Royce’ Speer zur Seite und streckte die Hand aus, um das Mädchen in Empfang zu nehmen. Begierig griff sie nach seiner Hand.
»Du darfst sie nicht berühren!«, rief Royce, doch es war zu spät. David Tanner taumelte und versuchte, sich von dem Mädchen zu befreien. Entsetzt verzog er das Gesicht, als die Dunkelheit an seinem Geist zerrte. Sie hielt ihn jetzt mit beiden Händen und einer unglaublichen Kraft fest. Royce wartete nicht. Er brachte seinen Speer wieder in Position und spießte das Mädchen auf. Die lange Klinge bohrte sich in ihren Rumpf.
Sam konnte aus wenigen Schritten Abstand verfolgen, was da vor sich ging. »Bei den Göttern! Royce, was hast du getan?« Er wollte vortreten, doch Royce hielt ihn mit
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