Der Cartoonist
Inzwischen beobachteten die
Zwillinge, die ihren Großvater in die Mitte genommen hatten, ihn ebenso
verwundert wie schockiert. Auf dem Gang kam eine Krankenschwester vorbei und
blieb sprachlos in der Tür stehen.
Wieder starrte
der Alte auf den unsichtbaren Punkt zwischen Klemmbrett und Heizkörper. Und
zeichnete weiter, als sei Scott gar nicht anwesend und niemals hier gewesen.
»Hallo, hier
Doktor Bowman. Bitte verbinden Sie mich mit Doktor Bateman .«
Scott war ins
Schwesternzimmer am Ende des Korridors gegangen, um im Besprechungszimmer der
Psychiatrie anzurufen. Die für neunzehn Uhr angesetzte Konferenz sollte in zehn
Minuten beginnen. Gleich darauf war Bateman am Apparat. »Vince, hier ist Scott.
Hören Sie, es ist mir leider etwas dazwischengekommen. Ich werd's nicht zur
Konferenz schaffen .«
»Wie bitte?
Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, Scott, schließlich leiten Sie die
verdammte Sitzung. Lassen Sie mich jetzt nicht hängen !«
Scott spürte
einen Anflug von schlechtem Gewissen. Man würde von Bateman als Chef erwarten,
dass er für Scott einsprang. Aber er handelte wie unter einem Zwang und wollte
unbedingt weiter versuchen, zu dem Zeichner durchzudringen. Das Gerangel um den
Bleistift hatte ihn nachhaltig beeindruckt: Der Mann war unglaublich stark.
Noch vor kurzem hatte Scott Gewichte von mehr als neunzig Kilo gestemmt Und
dennoch hatte er es nicht geschafft, dieser knotigen Faust den Bleistift zu
entwinden.
Und dieses
verzerrte Gesicht des Alten, dieses drohende Knurren ... Und die Augen ...
»Tut mir Leid,
Vince, aber Sandra Dunphy von der Verwaltung wird ja sowieso die meiste Zeit
reden. Ich hatte eigentlich nur vor, das Protokoll der letzten Sitzung
durchzusprechen, und wollte den Rest ihr überlassen .«
Schweigen am anderen
Ende der Leitung, danach ein tiefer Seufzer. »Ich hasse es, unvorbereitet zu
sein, Bowman, kann so was wirklich nicht ausstehen .« Bateman legte auf.
Immer noch
leicht benommen, kehrte Scott ins Zimmer des Alten zurück. Auf dem Gang
begegnete er den Zwillingen, die gerade aufbrachen. Sie musterten ihn
argwöhnisch.
Das alte
Gespenst war inzwischen in seinem Rollstuhl eingeschlafen. Das Klemmbrett
steckte zwischen den mageren Oberschenkeln. Der Bleistift, um den der Alte noch
vor wenigen Minuten wie ein aufgebrachtes Kind gerangelt hatte, baumelte locker
in der schlaffen Hand. Die Augen des Schlafenden lagen tief in den Höhlen,
waren aber nur halb geschlossen. Im Zwielicht glänzte das, was von den Augäpfeln
zu sehen war, wie Zinn. Sein Atem ging leise und stoßweise. Der Großvater auf
der anderen Seite des Zimmers lag still und friedlich in seinem Bett und
schnarchte zufrieden. Die anderen zwei Betten waren nicht belegt.
Als Scott
diesmal das Zimmer betreten hatte, war seine instinktive Reaktion nicht stärker
gewesen als bei simpler Neugier. Während er das Gesicht des Alten beobachtete,
langte er nach dem Bleistift, darauf gefasst, dass sich die magere,
skelettartige Hand erneut darum schließen würde. Aber sie rührte sich nicht.
Scott nahm
seine Beute an sich und musterte sie mit gewisser Ehrfurcht, obwohl es nur ein
ganz normaler Bleistift war: ein sechseckiger HB mit Radiergummi und der blauen
Aufschrift Castell. Gleich darauf streckte er die Hände nach dem
Klemmbrett aus. Diesmal zuckte der Alte zusammen, aber das war auch schon
alles. Scott packte das Brett und trat einen Schritt zurück.
Der Künstler
hatte seine jüngsten Werke unter einen Stoß leerer Blätter geklemmt. Nachdem
Scott sie herausgezerrt hatte, steckte er dem Alten das Klemmbrett wieder
zwischen die Schenkel und den Bleistift in die Hand. Die Zeichnungen nahm er
mit, als er das Zimmer verließ. Noch auf dem Gang begann er damit, jeden
Cartoon im flackernden Schein der Neonröhren sorgfältig zu inspizieren. Anfangs
kam es ihm so vor, als hätten sie keinerlei realen Hintergrund.
Bis er sich
die letzten Zeichnungen vornahm. Wie schon einmal, auf dem Seegrund, war es so,
als greife eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. Er war entsetzt.
Die ganze
Serie bestand aus nächtlichen Szenen. Die erste Zeichnung zeigte die
Gesamtansicht eines Friedhofs mit vielen Bäumen. Auf der zweiten fiel ein
Grabstein auf: Zwei übereinander geschichtete Marmorquader stützten eine
pyramidenförmige Stele, die von einem Kruzifix gekrönt wurde. Das Kreuz war
beschädigt, ein Seitenarm sowie ein kleiner Teil des Kopfstücks fehlten. Die
Inschrift, bis auf drei oder vier Buchstaben nicht lesbar,
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