Der Chinese
– sondern um einen Mord handelte. Wenn dem aber wirklich so war, so war es schwer, sich vorzustellen, wie er verübt worden war. Ernst Äbi mußte gezwungen worden sein, das Krankenzimmer zu verlassen; die zwei zusammengeknüpften Leintücher blieben hängen – also hatte der Ausbrecher gemeint, er brauche sie, um wieder in sein Zimmer zu gelangen… Und dann? Wen traf er? Sicher einen Menschen, dem er folgte; einen Mann, der Macht über den jungen Gärtner besaß. Und die Macht mußte groß sein – denn, falls man weiter annahm, der Schüler sei ins Gewächshaus geführt und in den mit Giftgas gefüllten Raum gestoßen worden, so hätte er leicht noch die oberen Scheiben an der Tür mit der Faust zerschlagen können. Eine einzige kurze Bewegung hätte ihn gerettet. Weshalb war er in dem lebensgefährlichen Raum verblieben? Weshalb hatte er sich einschließen lassen…?
Halt! Man besaß keinen einzigen Beweis, daß Ernst Äbi eingeschlossen worden war… Keinen Beweis? Einige Vermutungen immerhin. Aus welchem Grunde hatte jemand den rostigen Schlüssel mit einem neuen vertauscht?… Erste Vermutung. Die zweite: Arnold Äbi, der Vater des Burschen, besaß außerdem einen Schraubstock, der am Küchentisch befestigt war und Eisenspäne enthielt… Und noch eine dritte gab es. Studer grübelte, seine Stirne runzelte sich, plötzlich glättete sie sich wieder. »Aah!« sagte der Wachtmeister bloß. Er erinnerte sich, daß Frau Äbi sich über das Fehlen eines Medikamentes beklagt hatte; und offenbar handelte es sich um ein ›Betäubungsmittel‹.
Studer blickte den alten Äbi fest an, doch als er den Ausdruck sah, der dieses Gesicht beherrschte, wußte er, daß vorläufig alles vergebens war. Umsonst eine Durchsuchung der Kleidertaschen – der alte Schlüssel war wohl längst irgendwo versteckt worden. Es gab genug Verstecke rundum: große Blumentöpfe, ein Haufen Sand in einer Ecke, in der anderen Torfmull, der Mitteltisch des Gewächshauses bestand aus zwei Teilen und der eine war auf vier Seiten mit spannenbreiten Brettern eingehegt und hoch mit Erde bedeckt. Pflanzen wuchsen da, deren Namen der Wachtmeister nicht kannte; Sägspäne lagen herum. Unmöglich festzustellen, ob diese Sägspäne vor kurzem als Versteck gedient hatten. Im Zimmer des Süffels (innerlich vermochte der Wachtmeister nicht, den Mann anders zu nennen), war sicher ebenfalls nichts zu finden… Wahrscheinlich lag das ›Betäubungsmittel‹ irgendwo auf dem Mist – und Mist war nichts Rares, die drei Atmosphären besaßen ihn im Überfluß…
Trotz des Ausdruckes, der wie eine Maske auf des Alten Gesicht lag – der Mund, die Augen waren mit Hohn verschmiert –, wagte der Wachtmeister dennoch einen Versuch. Er sagte laut: »Ich möchte gern Ernst Äbis Pult durchsuchen…«
»Heut nacht noch?« fragte der Direktor und auch Paul Wottli protestierte. Ja, er widersprach so heftig, daß Studer aufmerksam wurde. Denn ganz deutlich hatte er feststellen können, daß die beiden Sprecher vor und während ihrer Antwort fast fragend auf den ehemaligen Maurermeister geblickt hatten. Arnold Äbis Gesicht veränderte sich ganz plötzlich: es verschwand der Hohn, die Lider senkten sich. Dann schüttelte der Mann den Kopf; seine Wangen waren bleich geworden. Hatte er Angst?
»Ich bestehe darauf«, sagte Studer. »Übrigens, Herr Lehrer, ich habe noch eine Frage zu stellen. Wie viele Gewächshausschlüssel gibt es?«
»Welchen Schlüssel meinen Sie? Den zur Haupttür? Von dem gibt es nur einen, diesen hier.« Wottli zog seinen Bund aus der Hosentasche, hielt einen mittelgroßen Schlüssel in die Höhe. Studer schüttelte den Kopf. »Ich meine den Schlüssel zu dieser Tür!« Und er wies mit der Hand auf sie.
»Zwei«, sagte der Lehrer leise. Warum schielte er immer auf den alten Äbi? »Einen besitzt der Herr Direktor, den andern ich.«
»Wo ist der Ihre, Herr Direktor?«
»In meinem Bureau, in irgendeiner Schublade des Schreibtisches.«
»Und wem gehört dieser hier?«
Die zwei sprachen zu gleicher Zeit, drängten sich dabei vor – und Arnold Äbi verbarg sich hinter ihnen. Was tat der alte Süffel dort? Warum versteckte er sich? Studer sah gerade noch, daß der Mann Handschuhe trug.
»Das könnte meiner sein…« »Das ist der vom Herrn Direktor.« Zweistimmig ist nur schön, wenn es sich um die Melodie eines Liedes handelt, Worte hingegen, zweistimmig gesprochen, schmerzen in den Ohren.
»Bitte!« Studer hob die Hände. »Einer nach dem
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