Der Chirurg von Campodios
Huren konnten froh sein, wenn sie nicht auf dem Sklavenmarkt landeten.
»Meinste nich, ’s is ’n bisschen duster fürs Heilmachen?« Phoebe stand auf der letzten Ruderbank und blickte auf ihn herab. Hinter ihr am Horizont versank die Sonne im Meer.
Bantry schreckte zusammen. Er war so in Gedanken gewesen, dass er die Frau gar nicht bemerkt hatte. »Ich muss fertig werden.«
»Wieso haste’s denn so eilich? Meinste ’n Schiff käm bald?«, fragte sie. »Meinste wirklich, wir sin bald inner Neuen Welt?«
»Hmja … schon möglich. Wenn ein Schiff kommt, brauche ich die Muskete. Du weißt schon, für die Signalschüsse.« Phoebe musste nicht unbedingt wissen, dass er nur eine Kugel hatte.
»Weissich, aber wennste beim Heilmachen nix siehst, kannste nix machen, warum nimmste nich die Laterne?«
Richtig, die Laterne! Sie befand sich im Schapp, ebenso wie Stouts Bordbuch mit Tinte und Feder. Er nahm sich vor, das Buch bei nächster Gelegenheit über Bord zu werfen, denn er hatte gesehen, wie der blasierte Cirurgicus etwas hineingeschrieben hatte. Er wusste nicht, was, und er konnte es auch nicht nachlesen, aber er vermutete, dass darin über den Piratenüberfall berichtet wurde und die Namen der Überlebenden festgehalten waren. »Gute Idee!«, sagte Bantry, und er meinte es sogar ernst. »Kannst du sie mir anmachen?«
»Kannich, bin kein Unmensch nich.« Phoebe stieg über den halb unter der Bank liegenden Vitus, drückte sich an Bantry vorbei und gelangte zu Hewitt, der wie immer an der Pinne saß. »Mach mal Platz, komm sonst nich ans Schapp ran.«
Wenig später hatte sie die Laterne entzündet und hängte sie, nach Bantrys Anweisungen, in eines der achteren Stage. »Wenn ’n Schiff kommt, kannes uns jetzt sogar nachts sehn«, meinte sie.
»Stimmt.« Daran hatte Bantry noch gar nicht gedacht.
Der Mond über ihm war von einem leuchtenden Gelb, und die Strahlen, die er aussandte, waren von derselben Farbe. Wie lange Finger waren sie, tasteten sich durch die Schwärze des Himmels und trafen auf das Schiff. Dann und wann erfassten sie ihn, und er spürte, dass sie nicht nur gelb, sondern auch angenehm kühl und feucht waren. Es war erquickend, sie auf der Stirn zu spüren, auf der Haut, ja, auf dem ganzen Körper, und er glaubte, sich lange nicht mehr so wohl gefühlt zu haben. Er versuchte, sie einzufangen, damit sie blieben und damit dieses kühle, gelbe, angenehme Gefühl niemals aufhörte, doch die Strahlen waren eigensinnig, sie wanderten auf und ab, entzogen sich ihm, trafen ihn wieder, kühlten ihn, wanderten abermals hin und her, kühlten ihn erneut und bildeten endlich eine Wolke, die sich mehr und mehr verdichtete zu Fleisch und Blut, zu dem Gesicht einer Puppe, einer Puppe, die er schon irgendwo einmal gesehen zu haben glaubte …
»He, Vitus, ich bin’s, hörste, ich bin’s, Phoebe«, wisperte die Puppe an seiner Seite, »biste wach?«
»Phoebe?«, entfuhr es ihm. Langsam kam er aus der Welt des Halbtraums in die Wirklichkeit zurück.
»Pssssst.« Sie legte ihm den Finger auf den Mund. »Nich so laut.«
Er nickte. Schräg über ihm entdeckte er eine Laterne, die warmes Licht in den Heckbereich der
Albatross
warf. Phoebes Gesicht war unmittelbar neben ihm. Im Schein der Lampe leuchtete es dann und wann auf. Fürsorglich strich sie ihm mit dem angefeuchteten Wickel noch einmal über die Stirn:
»Bantry musses nich mitkriegen, dasswer reden.«
»Bantry?«
»Pssssst! Ja, Bantry. Der is so komisch, fummelt schon ’ne Ewichkeit anner Muskete rum, willse heil machen, sacht, für ›Signalschüsse‹, aber ich weiß nich, trau ihm nich übern Weg.« Phoebe sprach so leise, dass ihre Stimme fast im Rauschen des Meeres und im Knarren der Takelage unterging.
»Er repariert die Muskete? Jetzt?«
»So isses. Komisch, nich?«
»In der Tat.« Vitus blickte zu Bantry hinüber, der dort in Brides Lederweste hockte und an irgendwelchen Metallstücken herumrieb. »Wieso trägt er Brides Weste?«
»Bride is tot, un Bantry wolltse ham, un ich dacht, Bride nütztse ja nix mehr.« In ihr Gesicht trat tiefe Trauer. »Ó Moghráin is auch tot, der Arme. Wir hamse beide ins Meer gekippt, ging nich anners, haste’s nich mitgekriegt?«
»Allmächtiger Gott! Und ich dachte, es wäre ein böser Traum gewesen.« Vitus schlug das Kreuz und murmelte ein kurzes Gebet. Ó Moghráin war tot. Und Bride auch. Und er, Vitus von Campodios, lebte. Er war Arzt und hatte sie nicht retten können. Er kam sich hilflos
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