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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Vitus noch da war und sie bemerkte, wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Nicht nach dieser Nacht.
    Die Tür gab einen knarzenden Laut von sich, und Louise stockte der Atem vor Schreck. Rasch lugte sie in den Raum. Gottlob! Vitus war nicht mehr da. Sie schlüpfte hinein, entledigte sich rasch ihres Übergewands und schlüpfte in eine abgewetzte, lederne Reiterkluft. Anschließend warf sie sich wieder ihren Umhang über. Ein letzter Blick streifte die armselige Kammer, bevor sie die Tür wieder von außen schloss.
    Kurz darauf verließ sie das Escargot.
    Nach Atem ringend, verhielt die alte Marou vor der kleinen Türstufe am Hintereingang ihrer Hütte. Bei ihrer Leibesfülle stellte jeder Schritt, und war er noch so klein, ein fast unüberwindliches Hindernis dar. Erst recht, wenn er nach oben führte. Marou schnaufte. »Das Laufen fällt mir von Mal zu Mal schwerer, Canalla.«
    Der farbenprächtige Trogon, der auf ihrer Schulter saß, flog mit einem krächzenden Laut aufs Dach.
    »Das ist brav von dir, aber auf dein Gewicht kommt es auch nicht mehr an.« Ächzend hob die Heilerin einen ihrer säulenartigen Schenkel – und setzte ihn gleich wieder ab. Erst nach mehrmaligen Versuchen gelang es ihr, die Stufe zu erklettern. »Jesus und Maria, das wär geschafft.«
    Die wenigen anschließenden Schritte bis zu ihrem Ruhestuhl am Feuer ließen sie in Schweiß ausbrechen. »Ich weiß auch nicht, warum ich immer dicker werde«, brummte sie, »ich esse seit Jahren so gut wie nichts. Nur trinken muss ich, viel trinken. Und doch denke ich manchmal, ich lasse mehr Wasser, als ich zu mir nehme.«
    Kopfschüttelnd betrachtete sie die große eiserne Schüssel, die sie soeben hinter dem Haus entleert hatte und noch immer in der Hand hielt. »Das Ding ist jedes Mal viel zu schnell voll.«
    Sie setzte die Schüssel wieder in das Loch der Sitzfläche, schlug ihren Überwurf hinten hoch und wuchtete ihr blankes Hinterteil auf den Stuhl. Die massiven Holzbeine quietschten. »Gott sei Dank, ich sitze!«
    Canalla flog heran und ließ sich abermals auf Marous Schulter nieder. Nun war alles wieder so, wie es sein sollte. Zufriedenheit breitete sich in ihrem Herzen aus. Sie saß bequem, ihr Puls beruhigte sich, und das Feuer neben ihr spendete Wärme. Eigentlich, so dachte sie, war es nicht nötig, in dieser Jahreszeit ein Feuer zu unterhalten, aber bei ihr lagen die Dinge anders, denn ihr war ständig kalt. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie sich zu wenig bewegte. Aber sie liebte die Ruhe nun einmal. Und das Sitzen …
    Sie wusste, dass ihre Art zu leben nicht gesund war, beileibe nicht, doch sie hatte sich ganz bewusst dafür entschieden.
    Als Mädchen war sie gertenschlank gewesen und hatte sich ihr Brot durch Botengänge in Habana verdient. Von morgens früh bis abends spät war sie in der Stadt unterwegs gewesen. Und genau wie sie liefen ständig Menschen durch die Straßen. Sie liefen zur Arbeit, liefen zu Ämtern, liefen zum Markt; Männer liefen zu Frauen, Frauen liefen zur Kirche. Kinder liefen davon, wenn sie etwas ausgefressen hatten, Bettler liefen von Haus zu Haus, Kaufleute liefen dem Geld hinterher. Jeder hatte es eilig, und keiner hatte Zeit. Schon damals hatte sie beschlossen, nach Ruhe zu streben. Ihre Fähigkeiten als Heilerin, die sich im Laufe der Jahre mehr und mehr entwickelt hatten, waren ihr dabei sehr zustatten gekommen. Denn in Ausübung dieser Tätigkeit musste sie nicht zu den Menschen gehen, die Menschen kamen zu ihr.
    »Ich glaube, da kommt jemand, Canalla«, sagte sie. »Meine Augen wollen nicht mehr so, aber die Ohren sind noch gut. Dem Schritt nach ist es eine Frau, die sich nähert, eine leichte Frau, wahrscheinlich eine sehr junge Frau. Junge Frauen kommen entweder aus Kummer mit ihrem Liebsten zu mir oder weil sie Warzen oder sonst eine Hautentstellung haben. Wobei häufig das eine mit dem anderen zusammenhängt.« Marou zog geräuschvoll die Nase hoch. »Wir werden sehen.«
    Inzwischen waren die Schritte kürzer geworden. Jetzt verhielten sie ganz. »Komm nur näher«, rief die Heilerin. »Die alte Marou beißt nicht!« Sie kicherte über ihren eigenen Scherz, doch wenige Augenblicke später verstummte sie, denn eine tief vermummte Gestalt betrat die Hütte. Die Erscheinung war mehr als ungewöhnlich. Sie trug ein wallendes dunkles Gewand, das sie vollständig verhüllte und nur eine Öffnung für die Augen frei ließ.
    Die Gestalt verharrte und deutete eine kurze Verbeugung an.
    Dann

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