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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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so etwas wie einen Ehrenkodex. Nein, hier musste etwas anderes passieren, etwas Spektakuläres, nie Gesehenes, etwas, das seine Macht untermauerte und gleichzeitig zur Kurzweil seiner Leute beitrug. Etwas ganz Großes, etwas … und dann wusste John »Jawy« Cutter, der Mann, der als Einziger in der Karibik seinen Unterkiefer aushaken konnte, was er zu tun hatte. Er richtete sich auf und schrie so laut, dass man ihn in jedem Winkel der
Torment of Hell
hören konnte: »Der blonde Klugscheißer wird kielgeholt!«
     
    Was Jawy verkündet hatte, war leichter gesagt als getan. Denn um einen Mann kielzuholen, verlangte es ein stilliegendes Schiff und eine ruhige See. An beides war auf dem Meer nördlich von Kuba nicht zu denken. Der Pirat beschloss deshalb, den Kurs kurzfristig zu ändern. Er wollte mit der
Torment
auf Cistern Point, die südlichste Spitze von Andros Island, zuhalten. Hier waren die Gewässer nicht ungefährlich, aber Jawy nahm es in Kauf, denn er bekam das, was er brauchte: sicheren Ankergrund und glatte See in einer der unzähligen kleinen Buchten.
    Einen Tag, nachdem er die Drohung ausgestoßen hatte, stand er an Oberdeck und sprach zu seinen Männern: »Hört zu, Leute, ich habe euch gesagt, dass der blonde Klugscheißer kielgeholt wird, und jetzt löse ich mein Versprechen ein.« Sein Blick streifte Vitus, der am Hauptmast stand. Man hatte ihm Arme und Beine gefesselt, so dass er keinen Schritt tun konnte, ohne umzufallen. Der Gefangene blickte mit steinerner Miene geradeaus. Wahrscheinlich war er starr vor Angst. Jawy wippte auf den Fußspitzen. Er fühlte sich großartig. Seine Männer blickten erwartungsfroh zu ihm auf, und er spürte, dass er einen Teil ihres Respekts schon zurückgewonnen hatte. Gut so! Er war fest entschlossen, ihnen ein nie da gewesenes Schauspiel zu bieten.
    »Ihr wisst natürlich, was Kielholen ist, Männer, aber für den blonden Klugscheißer erkläre ich es gerne noch mal. Es ist die härteste Strafe, die auf See verhängt werden kann, viel härter als dreimal hundert Hiebe mit der Neunschwänzigen. Dabei fängt es ganz harmlos an: Man holt ein Tau von einer Schiffsseite zur anderen durch und bindet den Mann daran fest. Dann stößt man ihn über Bord und zieht ihn am Rumpf entlang hinab bis unters Wasser.«
    Jawy musterte den blonden Burschen, der noch immer regungslos am Mast stand. Der Mann schien ihm gar nicht zugehört zu haben. Wahrscheinlich war er nach wie vor starr vor Angst. »Wie gesagt, man zieht den Mann am Rumpf entlang hinab ins Wasser, tiefer und tiefer, und unter dem Kiel hindurch. Dabei lässt man sich Zeit, denn es soll ja eine Strafe sein. Je mehr Zeit man sich lässt, desto schlechter geht’s dem Mann da unten.« Jawy machte eine bedeutungsvolle Pause. »So ganz ohne Luft.«
    Einige Männer lachten roh.
    Der Anführer streckte den Unterkiefer vor. »Man kann das Tau auch ein paar Mal vor und zurück holen, Leute, damit der Rücken des Mannes sich tüchtig am Muschelbesatz reibt. Ich habe mir sagen lassen, das gibt grausame Wunden.«
    Beifällige Rufe wurden laut: »Ja, mach das! Mal sehen, ob er blaues Blut hat!« – »Hahaha! Ja, zieht ihn schön langsam durch!« – »Aber mit Gefühl, hoho, mit Gefühl!« – »Genau, dann hat er mehr davon!«
    Beschwingt fuhr Jawy fort: »Und während der ganzen Zeit wird ihm die Luft knapper und knapper, Leute! Die Augen treten aus den Höhlen, die Lungen platzen …« Er gab Tipper, der mit Hilfe dreier Männer das Tau vorbereitet hatte, einen Wink. »He, Tipper, es kann losgehen, bindet den Klugscheißer fest, und zwar so, dass er mit dem Rücken über den Rumpf rutscht.«
    »Geht klar, Jawy.« Tipper wusste, was er zu tun hatte. Er war insgeheim angewiesen worden, den Gefangenen lange, aber nicht zu lange unter dem Rumpf der
Torment
hindurchzuziehen. Nicht aus Menschlichkeit, natürlich nicht, sondern weil der Bursche ja noch ein Lösegeld einbringen sollte, und das ging nur, wenn er die Prozedur lebend überstand.
    Zum letzten Mal wanderte Jawys Blick zu dem blonden Gefangenen, doch der sah weiterhin so aus, als ginge ihn das alles nichts an – selbst als Tipper und seine Helfer ihn kunstgerecht am Oberkörper mit dem Tau verknüpften und über das Schanzkleid schoben. Jawy unterdrückte seinen aufkommenden Ärger. Der verstockte Bursche würde noch früh genug Zeter und Mordio schreien, spätestens, wenn er auf der anderen Schiffsseite wieder hochgezogen wurde. Vorausgesetzt, er konnte es dann noch.

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