Der Chirurg von Campodios
Ja, die hochnäsige Visage würde ihm noch vergehen … Vielleicht betet der Klugscheißer auch?, fragte Jawy sich. Vielleicht glaubt er, sein letztes Stündlein sei gekommen? Der Gedanke gefiel ihm schon besser.
»Fahr zur Hölle, Klugscheißer!«, rief er laut.
Vitus hatte tatsächlich gebetet. Die Aussicht, ertränkt zu werden, hilflos wie eine Katze im Sack, war so ungeheuerlich, barg so unfassbaren Schrecken, dass er sich mit geschlossenen Augen an seinen Schöpfer gewandt hatte. Dann spürte er, wie grobe Hände ihn von der Bordwand stießen. Einen oder zwei Yards fiel er ins Leere, doch dann riss ihn das Seil zurück, das Tipper und seine Helfer straffgezogen hatten. Er öffnete die Augen und sah die näher kommende See. Mit den Füßen voran, Zoll für Zoll, hievten sie ihn dem Wasser entgegen. Sein Körper scheuerte über die rauen Barkhölzer hinweg, langsam, quälend. Die ersten Schmerzen! Oh, mein Gott! Vater, Vater, wozu sind Deine Kinder fähig!
Seine Füße berührten jetzt das Wasser. Die See war warm und kristallklar; sie wanderte an seinen Beinen hoch, über die Knie, die Oberschenkel. Wenn das so langsam weiterging, würde er schon nach der Hälfte der Strecke ertrunken sein. Jämmerlich ertrunken.
Sollte er die Augen aufbehalten? Oder sollte er sie schließen? Was würde leichter sein? Er schluckte Wasser, registrierte, dass sein Kopf eintauchte, und schöpfte ein letztes Mal tief Luft.
Herr, Du bist mein Schild und mein Trost,
mein Fels und mein Schutz,
Du bist bei mir in der Not …
Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn. Muscheln! Scharfkantige Muscheln! Sie saßen festgekrallt am Unterwasserschiff und rissen ihm den Rücken auf. Er schrie, sein Mund öffnete sich weit. Wasser drang gurgelnd in seine Luftröhre, salzig, gierig, als hätte es nur darauf gewartet, ihn zu ertränken. Er würgte, keuchte, schluckte, wollte atmen, doch statt der ersehnten Luft drang neues Wasser in ihn ein. Wie von Sinnen begann er mit den Beinen zu stoßen, wollte nach oben, zum Licht, zur Luft, doch das Wasser war überall. Wasser, Wasser, Wasser! Panik erfasste ihn, doch neue, noch stärkere Schmerzen jagten über seinen Rücken und lenkten ihn ab.
Herr, Du bist mein Schild und mein Trost,
mein Fels und mein Schutz …
Macht schneller, ihr Teufel da oben! Zieht doch, zieht, damit ich wieder Luft bekomme! Was macht ihr denn? Was macht ihr denn?
Das Tau war zum Stillstand gekommen und bewegte sich wieder nach oben. Neuerlicher Schmerz setzte ein. Sein Rücken brannte wie Feuer. Er versuchte sich abzulenken, stellte sich vor, wie Salzwasser auf offene Wunden wirkte. Hewitt, dem Zuverlässigen, war die Hand durchstochen worden von Jawy, dem Menschenschlächter. Eine Ewigkeit schien das zurückzuliegen. Aber er wusste noch genau: Die Wunde war vom Gangrän verschont geblieben. Durch das Salzwasser? Oder wodurch? Müßige Gedanken. Lächerlich! Ich brauche Luft, Luft, Luft!
Das Tau bewegte sich jetzt im Wechsel hinauf und herunter. Er hing daran wie ein Kokon am Faden. Neue Torturen jagten durch seinen Körper. Dann ein Widerstand: der Kiel! Er befand sich direkt unter der Schiffsmitte. Zieht mich hoch, um der barmherzigen Mutter Maria willen, so zieht doch! Zieht mich hoch, rasch, rasch! Ich kann nicht mehr!
Wild warf er den Kopf hin und her. Dann wurden seine Bewegungen schwächer. Gedankenfetzen liefen durch sein Hirn, Bilder entstanden vor seinen Augen, Bilder von besseren Tagen. Arlette stand da an Bord der
Phoenix
, lächelnd, strahlend, in einem salamandergrünen Kleid. Wo bist du, Arlette? Wo bist du? Warum bist du nicht gekommen? Ich habe dich so gesucht, habe auf dich gewartet. Ich sterbe, ich sterbe, Arlette …
Herr, Du bist mein Schild und mein Trost,
mein Fels und mein Schutz …
Jawy hatte sich zur Steuerbordseite begeben, wo er das Hochhieven des Kielgeholten verfolgte. Der blonde Bursche wurde mit den Füßen zuerst an Bord gezogen. Bäche von Seewasser rannen an seinem Körper herab. Er wirkte wie tot; die Bordwand unter ihm färbte sich rot. Er musste aus vielen Wunden bluten. Der Pirat empfand darüber grimmige Freude. »Na, Leute, wie fandet ihr das? Hat Jawy euch zu viel versprochen?«
Die Antwort war ein vielstimmiges Gebrüll.
»Hat Jawy das wieder mal gut hingekriegt?«
Abermals zustimmendes Gejohle.
»Na also. Das war’s!«, verkündete der Pirat zufrieden. »Jetzt geht’s mit vollen Segeln zurück. Legen uns nördlich der Bahía de Matanzas auf die Lauer. Müsste
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