Der Chirurg von Campodios
geräuschvoll. Es ging schon gegen Mitternacht, eine ungewöhnliche Zeit, um zu Stuhle zu kommen, doch Blubber hatte, wie viele seiner Spießgesellen, häufig Durchfall. Grund dafür waren die ausgiebigen Gelage, das schlechte Essen, das faule Trinkwasser und die mangelnde Sauberkeit an Bord. Aber das wusste Blubber nicht. »Was soll ich sagen«, pflegte er zu sagen, »solange man nich die rote Scheißerei hat, is alles halb so wild.« Und seine Kumpane, die neben ihm im Gärtchen saßen, nickten jedes Mal.
Wer an der Ruhr litt, hatte wässrigen, schleimigen, blutdurchsetzten Stuhl und innere Geschwüre. Ein Leiden, das mehr als unangenehm war, weil es mit krampfartigen Leibschmerzen einherging und weil es in den seltensten Fällen von selbst wieder verschwand.
Heute Nacht saß Blubber allein. Allein über dem kreisrunden Loch, unter sich nur das Meer und die gischtende Bugwelle. Allein mit sich und seinen Gedanken. Wie lange hatte er den Durchfall jetzt schon? Eine Woche? Zwei Wochen? Er glaubte sich zu erinnern, dass die lästige Lauferei an dem Tag angefangen hatte, als Jawy die Klugscheißer in seiner Kajüte erwischt hatte. Ja, das konnte sein! An dem Tag hatte auch eine schwarze Möwe über dem Hauptmast gekreist. Man stelle sich vor: Eine Möwe, die schwarz war! Wo doch alle Welt wusste, dass es keine schwarzen Möwen gab. Nur weiße.
Blubber wollte sich erheben, aber er spürte, wie sich seine Gedärme neuerlich zusammenzogen und für einen neuen Schub sorgten. Er musste sich noch gedulden. Wieder kreisten seine Gedanken um die schwarze Möwe. Er war nicht abergläubisch, beileibe nicht, aber der Fisch mit den zwei Köpfen, der Fletcher vor zwei Tagen an die Angel gegangen war, der gab ihm doch zu denken. Und dann dieses seltsame Licht, das er in der vergangenen Nacht beobachtet hatte: Die
Torment
war auf ihrer Jagd nach den Schatzgaleonen an den Rand einer Gewitterfront geraten, und plötzlich hatten die Mastspitzen und auch die Bugsprietspitze hell aufgeleuchtet. Die Bugsprietspitze ganz besonders. Es war ein intensives, büschelförmiges Licht gewesen, das die
Torment
vor sich hergetragen hatte und das im Takte der Gewitterblitze aufzuleuchten schien. Unerklärlich und bedrohlich …
Nun, heute Nacht gab es kein Gewitter, nur den Wind, der so viele Sprachen sprach. Er konnte flüstern, singen, jaulen, pfeifen, brausen, tosen; er konnte ganz verstummen, aber auch in Sturmstärke brüllen; er hatte unendlich viele Möglichkeiten, sich mitzuteilen. »Wuuuuui, wuuuuui«, machte der Wind, und abermals: »Wuuuuui, wuuuuui!«
Blubber, dem als erfahrenem Piraten die Windgeräusche in Fleisch und Blut übergegangen waren, achtete zunächst nicht darauf, denn er spürte, dass der letzte Schub vorüber war. Aufseufzend wollte er sich die Hose hochziehen und den Ort der Notdurft verlassen, als plötzlich der Wind erneut zu sprechen begann: »Wuuuuui, wuuuuui, Bluhuuuhuuubber!«
Blubber fiel auf den Sitz zurück. Was war das?, fragte er sich. Hatte der Wind seinen Namen gerufen? Ein Schauer des Schreckens durchrieselte ihn. Konnten Windgeräusche Worte formen? Oder war da irgendwo einer, der ihn foppen wollte? Natürlich, so musste es sein! Langsam stand er auf und fixierte seine Umgebung in alle Richtungen. Die schwere Eichentür, die zum Mannschaftslogis führte, sie stand halb offen und schwang im Auf und Ab der dahingleitenden
Torment
. Nein, dahinter war keiner. Auf dem Backsdeck darüber? Auch nicht. In den Rahen des Fockmasts? Nichts. Außenbords auf den Rüsten? Nichts. Auf den festgelaschten Ankern? Unter der Gräting? An der Galionsfigur? Nichts, nichts, nichts. Und im Bugsprietsegel? Es war nur aufgegeit und nicht festgemacht, was bedeutete, dass Spiel in seinen Bahnen war, aber es war so wenig, dass kein Mensch sich darin verbergen konnte. Kein Mensch, und war er noch so klein.
Er musste sich getäuscht haben.
»Bluhuuuhuuubber!«
Da war es wieder! Er hatte es ganz deutlich gehört! Mit zitternden Knien setzte Blubber sich. Die Hose, die er schon halb hochgezogen hatte, rutschte wieder auf seine nackten Füße. Es musste der Wind sein! Eine andere Möglichkeit gab es nicht, denn weit und breit war kein Mensch zu sehen!
»Bluhuuuhuuubber!«
Tod und Teufel! Blubbers Herz begann zu rasen. Er war kein Feigling, im Gegenteil: Er nahm es mit jedem auf. Wenn’s sein musste, sogar mit Jawy, aber das hier, das war etwas anderes. Das war kein Wind und auch kein Mensch. Das war ein Geist, ein Hexer, ein
Weitere Kostenlose Bücher