Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno

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Schlüssel herankommen?«
    »Das wird nicht leicht sein.« Hewitt kratzte sich den Kopf. »Jawy passt wie ein Schießhund auf seine Sachen auf.«
    »Und Blubber?«
    »Das wäre schon eher möglich. Blubber ist stark wie ein Ochse, aber das Pulver hat er nicht erfunden.«
    »Eine Kombination, die auf Erden nicht eben selten ist«, flocht der kleine Gelehrte ein.
    »Blubber muss den Schlüssel irgendwo aufbewahren«, überlegte der junge Matrose weiter. »Ich werde ihn beobachten. Aber sag, Vitus, was soll uns der Schlüssel nützen? Wohin wollt ihr fliehen? Wenn ihr aus dieser Zelle heraus seid, wird die
Torment
euer Gefängnis sein, und gegen die Übermacht der Piraten kommen wir zu viert in keinem Fall an.«
    Vitus nickte gedankenvoll. »Du hast in allem Recht, Hewitt. Und trotzdem hätte ich den Schlüssel gern.«

    »… vierhundertsechsundsechzig, vierhundertsiebenundsechzig, vierhundertachtundsechzig, vierhundertneunundsechzig, vierhundertsiebzig … und zurück: vierhundert …«
    »Magister«, in Vitus’ Stimme schwang Verzweiflung mit, »kannst du nicht einfach so an Deck spazieren, ohne jeden Schritt mitzuzählen?«
    »Natürlich könnte ich das«, dozierte der kleine Gelehrte, »aber es wäre bei weitem nicht so unterhaltsam. Ich habe ausgerechnet, dass ich bei meiner Gangart voraussichtlich dreitausendfünfhundertvierzehnmal ausschreiten muss, um eine Meile zurückzulegen, alle fünf Schritte muss ich dabei hier auf dem Oberdeck die Richtung ändern, meiner Berechnung nach wäre das bei einer Meile eine Richtungswechselzahl von …«
    »Magister! Genieße doch einfach die Sonne, die Luft, den Geruch der See. Und freue dich, dass man uns überhaupt an Deck gelassen hat.«
    »Du hast gut reden. Wie soll ich das genießen, wenn da oben auf dem Kommandantendeck Jawy steht, waffenstarrend wie die Rüstkammer einer Ritterburg. Sieh, wie er herüberschielt. Tut so, als würde es uns nicht geben, dabei lässt er uns keinen Moment aus den Augen. Muss die Hosen ganz schön voll haben, der Menschenschlächter, sonst hätte er uns die Hände nicht auf dem Rücken fesseln lassen. Nein, tut mir Leid, ich muss mich ablenken.« Der kleine Gelehrte nahm seine Wanderung wieder auf. »Vierhunderteinundsiebzig, vierhundertzwei …«
    »Halt’s Maul endlich, Klugscheißer!« Das war Jawy, dessen Augen Blitze schossen und dessen Kiefer zu mahlen begannen. Er hatte genau gespürt, dass der Bücherwurm ihn reizen wollte. Und das vor seinen Männern!
    Ohne zu überlegen, rief der Magister zurück: »Halt’s selber, Nussknacker!«
    Ein paar in der Takelage arbeitende Piraten lachten. Das erboste Jawy noch mehr: »Ich röste dir deine gelehrten Eier, wenn du nicht ein für alle Mal das Maul hältst!« Drohend schob er sich zum Niedergang und kletterte die Stufen zum Oberdeck herab. Er legte dabei eine Geschwindigkeit an den Tag, die für einen Mann seiner Größe bemerkenswert war.
    Vitus zischte seinem Freund zu: »Rede dich nicht um Kopf und Kragen! Halte dich an das, was der Menschenschlächter will.«
    »Ich rede, solange es mir Spaß macht!«, brüllte der kleine Gelehrte. »Vor Nussknackern ist mir nicht bange!«
    »So? Dir ist also nicht bange?« Jawy baute sich vor den Freunden auf. Er überragte Vitus um fast eine, den kleinen Mann um mehr als zwei Haupteslängen. Sein Blick wurde steinern. Dann schoss seine Faust vor und traf den Magister mitten im Gesicht. Es gab einen hässlichen Laut, als Knochen auf Knochen traf. Jawy registrierte es mit satanischer Freude und holte schon zum zweiten Schlag aus, der dem verhassten Bücherwurm den Rest geben sollte, als er einen stechenden Schmerz im linken Handgelenk spürte. Der Schmerz war so stark, dass er ihm den Atem nahm. Er schüttelte sich. Dann wurde ihm das Unfassbare klar: Der blonde Klugscheißer hatte ihn mit dem Fuß getreten, gezielt und wirksam, und genau gegen die Verwundung, die er ihm vor wenigen Tagen beigebracht hatte!
    Jawy wollte die Todesmelodie anstimmen, doch zu seinem grenzenlosen Erstaunen erwischte ihn ein zweiter Fußtritt, abermals gegen das verletzte Handgelenk. Er brüllte auf, spürte Torturen, die bis in seine Haarspitzen schossen, und wich zurück. Wie durch einen Nebel hörte er seine Männer lachen. Er, Jawy, war zum Gespött der Leute geworden!
    Die Erfahrung des alten Anführers sagte ihm, dass es hier nicht damit getan war, die beiden Gefangenen mit der Waffe zu töten, das wäre allzu billig gewesen, denn auch bei den Piraten gab es