Der Chirurg von Campodios
Troll! Kam jetzt die Strafe für alles, was er auf dem Kerbholz hatte? Die Rache für die Erschlagenen, Geschändeten und Beraubten? »T – t – tu mir nichts!«, stammelte Blubber. »T – t – tu mir nichts! B – b – bitte!«
»Fliiiehiiiehiiiehe, Bluhuuuhuuubber, fliiiehiiiehiiiehe!«
Fliehen! Er sollte fliehen! Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Fort, nur fort von diesem unheimlichen Platz! Blubber sprang auf, verhedderte sich mit den Füßen in seinen Hosenbeinen und schlug der Länge nach hin. Er schrie auf, weniger vor Schmerz als vor Schreck, strampelte halb wahnsinnig vor Angst die Hose von den Füßen und hetzte, nackt wie er war, davon.
Das Beinkleid blieb verwaist auf der Gräting.
Der Schlüssel zur Arrestzelle, der im Beutel am Hosenbund gesteckt hatte, war herausgefallen. Er lag auf dem hölzernen Kreuzgitter, halb über eines der quadratischen Löcher ragend. Eine kleine Hand kam geschwind und wollte ihn aufnehmen, doch in diesem Augenblick sank die
Torment
in ein Wellental, der Schlüssel verlor das Gleichgewicht und fiel in die schäumende Bugsee.
»Du dümmeler Knochen!«, schimpfte ein Stimmchen. »Du dümmeler Hausknochen!«
Es war ein Fistelstimmchen. Und es hatte nichts mehr mit den Windgeräuschen gemein.
Wieder waren einige Tage vergangen. Unten im Orlopdeck, wo die Freunde nach wie vor hinter Schloss und Riegel saßen, hatte Langeweile Einzug gehalten. Es war irgendwann am Vormittag, jedenfalls vermutete der Magister das, denn die genaue Tageszeit war in dem schummrigen Kerzenlicht schwer abzuschätzen, und der kleine Gelehrte fühlte sich alles andere als zufrieden. »Diese Piratenbande scheint kein anständiges Glasen zu kennen, nie weiß man, was die Stunde geschlagen hat. Ein ziemlicher Sauhaufen, den Jawy da befehligt. Und so etwas ist man nun auf den Leim gegangen! Na ja, lerne leiden, ohne zu klagen, wie es so schön heißt. Wenn mich nicht alles täuscht, rückt die Mittagszeit heran, und Hewitt hat sich noch immer nicht sehen lassen, von dem Zwerg gar nicht zu reden. Der glänzt durch Abwesenheit. Will einen Besen fressen, wenn da alles so gelaufen ist, wie wir’s uns vorgestellt haben.«
»Wir können nur warten.« Vitus legte sich vorsichtig auf den Rücken und freute sich, dass seine Verletzungen diese Position bereits zuließen.
»Warten, warten, warten. Du weißt, dass Geduld nicht gerade zu meinen Tugenden zählt.«
»Komm, nimm mir lieber den Verband ab. Ich glaube, die Wunden sind so weit zugeheilt, dass ich keinen neuen mehr brauche.«
»Wie der Herr Cirurgicus befehlen.« Grummelnd machte der kleine Mann sich an die Arbeit. Während er schnell und geschickt die einzelnen Bahnen abwickelte, erklärte er: »Zuerst war es ja nicht so schlimm in diesem Loch. Fast vertraut war es, wie in alten Zeiten, als wir gemeinsam im Inquisitionskerker schmachteten. Aber auf die Dauer kann ich mir doch etwas Besseres vorstellen, als tagein, tagaus hier unten zu hocken. Ob der Zwerg wohl etwas ausrichten konnte?«
»Ich weiß es nicht, mein Alter. Wir können nur warten.«
»Du sagtest es bereits.« Der kleine Gelehrte wickelte die letzte Bahn ab und beäugte kritisch die Wunden. Die Schnitte waren zum größten Teil verheilt, nur an wenigen Stellen hatte der Schorf sich noch nicht gelöst. »Du brauchst tatsächlich keinen neuen Verband, hast gutes Heilfleisch!«
Vitus lächelte. »Und einen guten Arzt.«
»Schon gut, nicht der Rede wert.« Der kleine Mann blickte zur Seite, denn er wollte nicht, dass Vitus seine aufkommende Verlegenheit bemerkte. »Ich finde, wir sollten wirklich sehen, dass wir die Gittertür bald öffnen können, auch wenn wir damit unser Gefängnis nur vergrößern, weil wir vom Schiff nicht herunterkommen.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Darauf, dass ich keine Lust habe, bei einem Gefecht hier unten zu schmoren, während mir die feindlichen Kugeln um die Ohren fliegen. Stell dir vor, wenn der Kahn absäuft, saufen wir mit ab, eingeschlossen und hilflos, jämmerlich wie die Ratten. Dabei würde ich dem Menschenschlächter nichts mehr wünschen, als dass er mit seiner
Torment of Hell
auf den Grund des Meeres geschickt wird. Nur bitte nicht dann, wenn wir hier unten eingesperrt sind.«
»Stimmt. Sag, merkst du das auch? Da oben ist irgendetwas los!«
Tatsächlich herrschte plötzlich Unruhe auf dem gesamten Schiff. Unverständliche Rufe erklangen an Oberdeck, Pfiffe gellten, heftiges Fußgetrampel, unterbrochen vom Quietschen schwerer
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