Der Chirurg von Campodios
stärker, als uns lieb ist … Heilige Mutter Maria! Bantry, du hältst schon wieder zu weit südlich! Guck auf den Kompass! Verzeihung, Cirurgicus, ich wollte mich nicht in Eure Befehlsgewalt einmischen.«
»Schon gut. Ihr habt ja Recht.« Vitus ärgerte sich, dass er nicht selbst darauf geachtet hatte. Dabei war es ein Kinderspiel, Kurs zu halten, denn Bride hatte vor der Heckbank einen stabilen Vierkantpfosten senkrecht in den Kiel eingelassen und an seinem oberen Ende den Kompass gut sichtbar angebracht. Darunter befand sich das Stundenglas, welches vom Wachführer alle dreißig Minuten gedreht werden musste. »Bantry, du musst einfach besser aufpassen. Denk immer daran: An der Pinne hast du die Verantwortung für zehn Menschenleben. Ein einziger Strich Kursabweichung kann uns Hunderte von Meilen am Ziel vorbeitragen.«
Bantry presste die Lippen zusammen und blickte starr geradeaus. Schließlich grunzte er ein »Ja, schon gut, Sir«, zwischen den Zähnen heraus.
Die Antwort war unangemessen. Sehr unangemessen sogar, selbst wenn man berücksichtigte, dass die
Albatross
kein reguläres Schiff und Vitus kein Kapitän war. Er hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, überlegte es sich dann aber anders. Er wollte kein böses Blut, schon gar nicht am Anfang der Fahrt. Sein Blick ging kritisch über das Boot – es war eine Nussschale in der Weite des Ozeans, lächerlich klein, verletzlich und mit Menschen überladen.
Die
Albatross
maß fünfundzwanzig Fuß in der Länge, was ungefähr der Körpergröße von vier stattlichen Männern entsprach, und gut acht Fuß in der Breite. Zwischen der Sitzbank im Heck und der Spritzabdeckung am Bug gab es drei Ruderbänke. Durch die mittlere Ducht, des größeren Halts wegen, verlief der Mast. Vorne auf der Spritzabdeckung stand Jack, der Hahn, in seinem Käfig. Der Vogel wirkte schwach, aber Vitus brachte es nicht übers Herz, ihn töten zu lassen. Irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen.
Zwischen der Spritzabdeckung und der ersten Bank hatten Phoebe und Phyllis ihren Platz gefunden – über sich ein schützendes Sonnensegel und zwischen sich das glimmende Kohlebecken, welches mit vier eisernen Beinen im Bootsboden verankert worden war. Beide Mädchen hielten, wie befohlen, scharf Ausschau nach allen Seiten.
Hinter ihnen, quer über die Ruderbank ausgestreckt, lag Fraggles und schnarchte.
In dem schmalen Raum bis zur mittleren Bank hatte Ambrosius sich zusammengefaltet und saß mehr schlecht als recht auf einer Taurolle. Doch hielt ihn die unbequeme Lage nicht davon ab, Ausschau nach Steuerbord zu halten, und dies, obwohl er Freiwache hatte. Gleiches galt für den Zwerg, der sich den nächsten Raum zwischen den Ruderbänken mit dem Magister teilte. Er suchte die See nach Backbord ab.
Bride schließlich saß ebenfalls an Backbord, dicht vor Ó Moghráin, und hielt mit derber Zimmermannsfaust die Schot des Sprietsegels.
Und vor, hinter, neben und unter ihnen lag alles, was sie hatten retten können. Die Gegenstände quollen nur so zwischen ihnen hervor, und Vitus wünschte von Herzen, es gäbe etwas, von dem sie sich hätten trennen können, doch bot sich einfach nichts an, im Gegenteil, ihnen fehlte etwas, und das waren die Riemen. Sie waren bei der Katastrophe sämtlich verloren gegangen, was bedeutete, dass sie im Falle eines Mastverlusts nicht einmal mehr die Möglichkeit hatten, sich rudernd fortzubewegen. Spätestens dann würden sie ein Spielball von Wind und Wellen sein.
Vitus schob die unguten Gedanken beiseite. »Wie groß sind unsere Aussichten, einem Schiff zu begegnen, Mister Ó Moghráin?« fragte er.
Der Steuermann schüttelte bedauernd den Kopf. »Minimal, Cirurgicus. Die Route in die Heimat verläuft viel weiter nördlich, dazu kommt, dass sie zu dieser Jahreszeit noch nicht befahren wird.«
Der Magister meldete sich von vorn. »Gibt es denn gar nichts, was ich weiter tun könnte? Ich komme mir so nützlich vor wie eine Küchenschabe!«
»Doch«, antwortete Ó Moghráin nach kurzem Nachdenken, »Ihr könntet eine Langleine zum Angeln herrichten. Die Haken dazu habt Ihr ja selbst gefunden.«
»
Go raibh maith agat
, das stimmt, Herr Steuermann.« Die Aussicht auf eine interessantere Tätigkeit belebte den kleinen Gelehrten. »Nur fürchte ich, dass ich so etwas allein nicht fertig bringe.«
Vitus hatte eine Idee. »Bantry wird dir helfen, Magister.« Und zu Bantry: »Ich übernehme die Pinne.«
Wenig später saßen Ó Moghráin und Vitus
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