Der Chirurg von Campodios
allein im Heck, und Vitus sagte: »Vielleicht ist es ganz gut, dass Bantry fort ist. Mir scheint, Männer wie er kommen nur auf dumme Gedanken, wenn sie hören, wie schwierig unsere Lage ist.«
»Ich fürchte, da habt Ihr Recht, Cirurgicus. Auch Fraggles macht auf mich einen etwas zwielichtigen Eindruck. Er ist zwar nicht gerade ungehorsam, aber man spürt, dass er alles nur widerwillig tut.«
»Ihr sagt es. Ich bin sicher, er oder Bantry haben das Schapp neulich Nacht aufgeknackt und den Schinken geraubt. Ein Diebstahl, den ich nur deswegen nicht weiterverfolgt habe, weil ich unsere Lage nicht schlimmer machen wollte, als sie ohnehin schon ist.«
Ó Moghráin seufzte. »Hoffen wir, dass die Burschen sich in Zukunft am Riemen reißen.«
Am anderen Morgen zur selben Zeit lag eine Nacht ohne besondere Vorkommnisse hinter ihnen; eine Nacht, in der die Sternbilder wiederum zum Greifen nah gewesen waren und ein klarer Mond die
Albatross
in silbriges Licht getaucht hatte. Das Westmeer schien es gut mit ihnen zu meinen, und angesichts der Weite und des Friedens, die sie umgaben, war es kaum vorstellbar, dass es jemals anders sein konnte.
Vitus und Ó Moghráin saßen gemeinsam im Heck und genossen es, dass sich bereits so etwas wie ein Bordalltag entwickelt hatte. Die Wachwechsel klappten gut, das Boot lief brav, und die Männer arbeiteten Hand in Hand – auch Bantry und Fraggles. Die Sorgen des gestrigen Tages waren vergessen. Plötzlich erscholl Phoebes Ruf aus dem Bug:
»Großer Gott, da vorn, ’n Fisch! Ich seh ’n Fisch, ’n mächtigen Fisch seh ich, grau und schwarz isser, oder isses gar kein Fisch?« Sie wandte sich aufgeregt an Ambrosius. »Vater, Vater, ich hab’n Fisch entdeckt, ’n Fisch hab ich entdeckt. Hui, guckt der weit ausm Wasser raus! Da vorn, da isser! Könnt Ihr ihn sehn?«
Alle blickten angestrengt nach vorn. Ambrosius kletterte auf die Ruderbank, richtete sich, mühsam das Gleichgewicht bewahrend, zu ganzer Länge auf und hielt die Hand abschirmend über die Augen.
Lange Zeit sagte er nichts.
»Wassis nu, Vater, seht Ihr was oder nich?«, quengelte Phoebe von unten.
»Ja, in der Tat, ich sehe etwas herantreiben«, entgegnete der Mönch schließlich, sich dabei bekreuzigend.
»Un? Was isses?«
»Ein Mensch auf einer Art hölzernem Floß.«
»Vorsichtig hochziehen, ganz vorsichtig hochziehen, wer weiß, vielleicht ist er schwer verletzt.« Vitus, der die Pinne Ó Moghráin überlassen hatte, mühte sich mit Bruder Ambrosius, den bewusstlosen Mann über die Bordkante zu heben und auf der Ruderbank abzulegen. Obwohl der Mann leicht war, gelang es ihnen erst beim dritten Versuch. Schwer atmend richtete Vitus sich auf. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Fraggles, obwohl in unmittelbarer Nähe, die ganze Zeit tatenlos zugesehen hatte. »Fraggles, verdammt noch mal«, entfuhr es ihm, »du stehst daneben und machst keinen Handschlag! Was denkst du dir eigentlich?«
Fraggles verzog den Mund und spuckte ins Meer. »Was ich denk? Ich denk, der Mann hat an Bord nichts zu suchen. Das denk ich! Haben sowieso viel zu wenig zu fressen, und ’n Fresser mehr können wir nicht brauchen. Sollten lieber überlegen, wen wir noch über Bord kippen.«
Vitus fehlten die Worte. Was war plötzlich in den Mann gefahren? Woher kam diese menschenverachtende Haltung? War es Verwirrung? Angst? Panik? Gewiss, ihre Lage war alles andere als rosig, vielleicht sogar hoffnungslos, aber das rechtfertigte noch lange nicht eine solche Entgleisung, schließlich ging es Fraggles nicht besser und nicht schlechter als jedem anderen an Bord.
Ambrosius fasste sich als Erster. »Aus deinem Munde spricht der Satan, Elender!«, donnerte er. »Keinem braven Christenmenschen fiele es auch nur im Traum ein, so wie du zu reden! Verdammt sei deine Seele, wenn du nicht augenblicklich …« Abrupt brach er ab, denn in Fraggles Hand war ein Messer aufgetaucht.
»Nicht wahr, da guckt Ihr, Vater?« Über Fraggles’ Züge lief ein schmieriges Grinsen. »Und der Cirurgicus und der werte Herr Steuermann dahinten auch! Ja, ihr seht richtig: Fraggles hat ein Messer. Ein schönes, langes Messer. Jahaaa! Und das, obwohl das rothaarige Fischmündchen mit seinen Fischaugen wie ein Schießhund aufgepasst hat. Jahaaa, glotz du nur, Krüppelbuckel! Ich hab’s von dem toten Piraten im Wasser, der hatte nämlich zwei Messer! Zwei Messer hatte der, und eins davon hat Fraggles noch immer, und die verfluchte Posse hier hat ein Ende!«
Sein
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