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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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wurde das Meer freier, auch die letzten noch schwimmenden Wrackteile gerieten außer Sicht. Er zwang sich, nach vorn zu blicken.
    Nach vorn, in die unendliche Weite der See.
     
    Zwanzig Stunden später, Vitus und seine Männer hatten die Morgenwache von vier bis acht Uhr, lagen die ersten fünfzig Seemeilen hinter ihnen – jedenfalls Ó Moghráins Schätzung nach, der seine freien Stunden nutzte, um mit Vitus ein wenig zu plaudern. Sie saßen seitlich vor der Heckbank, zwischen sich Bantry, der die Pinne hielt, und der Steuermann sagte in seiner verbindlichen Art:
    »Wir haben Glück, Cirurgicus, dass Wind und Strömung in diesen Breiten von Ost nach West verlaufen, dadurch treiben wir fast von selbst in den karibischen Raum.«
    Vitus nickte und stellte dabei fest, dass seine Beule am Hinterkopf noch immer schmerzte. Trotzdem hatte er während der Nacht den von Phoebe angebrachten Verband abgenommen. Er wollte, dass Luft an die Stelle gelangte, und überdies erhoffte er sich einige Kühlung durch den Fahrtwind. »Vorausgesetzt, wir können diese Geschwindigkeit beibehalten, wie viele Tage, Mister Ó Moghráin, brauchten wir dann noch bis nach Westindien?«
    Der Angesprochene lachte. »Die Antwort, Cirurgicus, kann ich Euch beim besten Willen nicht geben … He, Bantry, lass dich durch unser Gespräch nicht ablenken, du steuerst zu weit südlich, hörst du! Wozu hast du den Kompass vor deiner Nase? … Verzeiht, also, die Antwort fällt schwer, weil ich unsere Länge nicht kenne, oder, laienhaft ausgedrückt, nicht weiß, wo wir mit unserer
Albatross
stehen. Natürlich irgendwo zwischen Afrika und Amerika, so viel ist klar, aber wo genau, das ist die Frage. Den Längengrad präzise zu bestimmen, ist unmöglich, und zu erklären, warum das so ist, sehr kompliziert …«
    Vitus winkte freundlich ab. »Lasst nur, Steuermann, der Magister und ich hatten das Glück, im vorletzten Jahr einen spanischen Navigator kennen zu lernen, der wahrlich sein Handwerk verstand. Der Mann hat uns die Problematik sehr anschaulich erläutert.« Er spähte nach vorn, wo der kleine Gelehrte gedankenverloren neben dem Hauptmast kauerte. »Stimmt’s, Magister?«
    »Hm?«
    »Erinnerst du dich noch an Manuel Fernandez? Der war doch ein brillanter Navigator!«
    »So ist es wohl, so mag’s wohl sein.« Der kleine Mann blinzelte und blickte nicht besonders glücklich drein, konnte er sich doch, seiner mangelnden Sehkraft wegen, nicht als Ausguck nützlich machen. Auch die Bedienung des Sprietsegels musste er Bride überlassen. Dieser, obwohl Zimmermann, verstand immer noch mehr davon als er. So blieb ihm nichts anderes übrig, als das durch den Bootsboden einsickernde Wasser herauszuschöpfen. Er nahm dazu einen der hölzernen Eimer, ein schweres Behältnis mit Reifen und eisenverstärktem Boden, was ihn die Arbeit recht sauer ankommen ließ. »Wie kommst du denn plötzlich auf Fernandez?«
    »Nur so. Mach dir nichts draus, dass du im Augenblick nichts anderes tun kannst.«
    Vitus wandte sich wieder an Ó Moghráin. »Und auf welcher Breite stehen wir?«
    »Ungefähr 15 Grad nördlich des Äquators, jedenfalls taten wir das an dem Tag, als dieses Piratengesindel uns überfiel. Wie weit seitdem das Wrack – und wir mit ihm – nach Süden oder Westen abgetrieben wurde, weiß die Heilige Mutter allein. Über den Daumen geschätzt, um Euch wenigstens eine grobe Vorstellung von der Länge zu geben, befinden wir uns tausendfünfhundert Seemeilen östlich der Antillischen Inseln. Unter den jetzigen günstigen Bedingungen benötigten wir tausendfünfhundert durch fünfzig, also dreißig Tage bis in den karibischen Raum. Aber ich will Euch und den anderen nichts vormachen: Die Fahrt kann auch doppelt so lange dauern.«
    »Ich habe es befürchtet.« Vitus musste an die Ration denken, die jedem an Bord täglich zustand. Sie war so klein, dass nicht einmal ein Kind davon satt wurde. Dennoch, er hatte sie auf eine Fahrtdauer von fünfunddreißig Tagen berechnet, und so gesehen, mochten die Vorräte im günstigsten Fall gerade ausreichen. Anders stand es mit dem Trinkwasser. Damit würden sie auf keinen Fall auskommen. Man konnte nur um Regen beten und hoffen, etwas davon in einer Segeltuchplane auffangen zu können. Anderenfalls … »Sagt, Mister Ó Moghráin, regnet es häufig in diesen Breiten?«
    »Es kommt darauf an, was Ihr unter häufig versteht. Aber so viel ist sicher: Wir werden ein paar Mal Regen haben. Vielleicht sogar öfter und

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