Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
und sie stützten und korrigierten das Gedächtnis.
Sein Schreiber begleitete ihn inzwischen fast immer. Im Alter von zehn Jahren war er â wie viele andere â durch das Erdbeben zu einer Waise geworden, hatte Zuflucht in Terayama gefunden und war dort ausgebildet worden. Seine rasche Auffassungsgabe, seine Geschicklichkeit mit dem Pinsel und auch seinen Eifer hatte man bald erkannt â er war einer jener Menschen, die laut Sprichwort selbst im Licht der Glühwürmchen und im Widerschein des Schnees lernten â, und am Ende war er von Makoto ausgewählt worden, um sich in Hagi dem Haushalt Lord Otoris anzuschlieÃen.
Er war von Natur aus schweigsam, machte sich nichts aus Alkohol und wirkte auf den ersten Blick eher langweilig. Doch wenn er mit Takeo allein war, kam sein vortrefflicher, sarkastischer Humor zum Vorschein. Er war von nichts und niemandem zu beeindrucken, behandelte jeden mit der gleichen höflichen Demut und bemerkte hellsichtig und mit einem gewissen distanzierten Mitgefühl alle Schwächen und Eitelkeiten seines Gegenübers. Sein Name war Minoru, was Takeo amüsierte, da er diesen Namen selbst für kurze Zeit getragen hatte, in einem anderen Leben, wie ihm nun schien.
Minoru schrieb schnell und schön.
Beide Güter waren durch das Erdbeben schwer beschädigt worden, die Häuser abgebrannt. Shirakawa hatte man neu erbaut und Takeos zweite Schwägerin, Ai, hielt sich dort jedes Jahr mehrere Monate mit ihren Töchtern auf. Ihr Mann Sonoda Mitsuru begleitete siemanchmal, aber seine Pflichten hielten ihn meist in Inuyama zurück. Ai war praktisch veranlagt und fleiÃig und hatte vom Beispiel ihrer Schwester gelernt. Shirakawa hatte sich von der Misswirtschaft und Nachlässigkeit ihres Vaters erholt. Es blühte und gedieh und produzierte groÃe Ãberschüsse an Reis, Maulbeeren, Dattelpflaumen, Seide und Papier. Fujiwaras Gut war von Shirakawa mitverwaltet worden. Eigentlich war es reicher und inzwischen wurde auch dort ein ordentlicher Ãberschuss erwirtschaftet. Takeo merkte, dass er es nur ungern Fujiwaras Sohn überlassen würde, auch wenn dieser der rechtmäÃige Eigentümer war. Im Augenblick kamen die Erträge des Gutes den Drei Ländern zugute. Er argwöhnte, dass Kono so viel wie möglich an sich ziehen, alles aus dem Land herausholen und den Gewinn in der Hauptstadt ausgeben wollte.
Sobald es ganz hell war, nahm er ein Bad und lieà einen Barbier kommen, um sich Haar und Bart stutzen zu lassen. Er aà ein wenig Reis und Suppe und legte dann die offiziellen Gewänder für das Treffen mit Fujiwaras Sohn an, wobei er nur wenig Freude an der feinen Seide und der klaren Eleganz der Muster hatte: der malvenfarbenen Glyzinienblüte auf dem tiefvioletten Untergewand und dem abstrakteren Webmuster des Obergewandes.
Der Diener setzte ihm einen kleinen schwarzen Hut auf und Takeo nahm sein Schwert Jato vom üppig geschnitzten Ständer, auf dem es über Nacht geruht hatte, und hängte es an seine Schärpe, wobei er an all die Verkleidungen dachte, in denen er es gesehen hatte, angefangen mit der abgewetzten schwarzen Haifischhaut, die um seinen Griff gewunden gewesen war, als es ihm, von Shigeru geführt, das Leben gerettet hatte. Nun waren sowohl Griff als auch Scheide reich verziert und Jato hatte seit vielen Jahren kein Blut mehr gekostet. Takeo fragte sich, ob er je wieder in einer Schlacht blankziehen würde und ob er mit seiner versehrten rechten Hand überhaupt kämpfen konnte.
Auf dem Weg vom Ostflügel zur Haupthalle des Hauses durchquerte er den Garten. Es hatte aufgehört zu regnen, doch der ganze Garten tropfte. Die Glyzinien lieÃen vor Nässe die Blüten hängen und ihr Duft vermischte sich mit dem des feuchten Grases, dem Salzgeruch des Hafens und den vielfältigen Gerüchen der Stadt. Jenseits der Mauern konnte Takeo hören, wie die Stadt erwachte: Krachend gingen Fensterläden auf und in der Ferne ertönten die Rufe der morgendlichen StraÃenverkäufer.
Diener glitten ihm lautlos voran, schoben die Türen auf. Die glänzenden Böden dämpften ihre Schritte. Minoru, der auch gefrühstückt und sich angekleidet hatte, stieà schweigend zu Takeo, verneigte sich tief und folgte ihm dann mit ein paar Schritten Abstand. Ein Diener, der neben ihm ging, trug das lackierte Schreibpult, Papier, Pinsel, Tuschstein und Wasser.
Zenko
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