Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
die heiligen Schriften lesen zu können. Er würde sie bitten, sich von Madaren in der Sprache der Fremden unterrichten zu lassen, und ihr enthüllen, dass es sich bei der Dolmetscherin um seine Schwester handelte ⦠Die Vorstellung, ein Geheimnis weniger vor ihr zu haben, freute ihn seltsamerweise sehr.
»Suche ein findiges Mädchen als Dienerin für sie aus«, sagte er zu Shizuka. »Sie soll sich bemühen, so gut wie möglich zu verstehen, was die Fremden reden. Und wir werden uns hier Unterricht geben lassen.«
»Willst du die Sprache auch lernen, Cousin?«
»Dafür fehlt mir wohl die Begabung«, antwortete Takeo. »Aber Kaede hat sie auf jeden Fall. Und du auch.«
»Ich fürchte, dafür bin ich zu alt«, erwiderte Shizuka lachend. »Ishida interessiert sich allerdings sehr dafür und hat eine Liste mit wissenschaftlichen und medizinischen Begriffen zusammengestellt.«
»Gut. Er soll damit fortfahren. Je mehr wir über sie wissen, desto besser. Und sieh zu, dass du von deinem Mann noch mehr über ihre wahren Absichten und ihre Verbindung zu Zenko erfährst.
Ist Taku wohlauf?«, fragte er wie als Nachgedanke.
»Scheint so. Ich glaube, es frustriert ihn ein wenig, im Westen festzusitzen. Er bricht bald mit Lord Kono zu einer Inspektion der Ländereien auf und will sich von dort nach Maruyama begeben.«
»Wirklich? Dann sollte Hiroshi dort sein, damit er ihn treffen kann«, sagte Takeo. »Er kann mit demselben Schiff zurückreisen und Taku über unsere Beschlüsse in Kenntnis setzen.«
Zwei Tage später wurde das Schiff gesichtet. Shigeko hörte die Glocke auf dem Hügel oberhalb des Schlosses, als sie sich gemeinsam mit Hiroshi um das Fohlen kümmerte. Tenba akzeptierte das Gebiss des Zaumzeugs und lieà sich von Shigeko am weichen Zügel führen, doch sie hatten ihm weder einen Sattel noch ein anderes Gewicht aufgelegt, sondern nur eine leichte Steppdecke, die ihn immer noch zucken und austreten lieÃ.
»Ein Schiff kommt«, sagte sie und versuchte vergeblich, im hellen Gegenlicht des Morgens etwas zu erkennen. »Hoffentlich ist es Dr. Ishida.«
»Wenn er es ist, muss ich nach Maruyama zurückkehren«, sagte Hiroshi.
»Jetzt schon!«, rief Shigeko unvermittelt aus, und weil ihr dies peinlich war, fügte sie rasch hinzu: »Vater sagt, dass er mir ein ganz besonderes Geschenk mitbringt, will mir aber nicht verraten, was.« Ich klinge wie ein Kind , dachte sie, verärgert über sich selbst.
»Ich habe ihn davon sprechen hören«, erwiderte Hiroshi, und sie hatte das Gefühl, als behandelte er sie wie ein Kind.
»Wissen Sie, was es ist?«
»Es ist ein Geheimnis!«, neckte er sie. »Ich kann doch nicht die Geheimnisse Lord Otoris ausplaudern.«
»Warum sollte er es Ihnen statt mir erzählen?«
»Er hat es mir nicht erzählt«, gestand er. »Er hat nur gesagt, er hoffe, dass es gutes Wetter und eine ruhige Reise habe.«
»Dann ist es irgendein Tier!«, sagte Shigeko erfreut. »Ein neues Pferd! Vielleicht auch ein Tigerjunges! Das Wetter war ja gut. Ich bin immer glücklich, wenn beim Sternenfest gutes Wetter ist.«
Sie erinnerte sich an die Schönheit der letzten stillen, mondlosen Nacht, an die glitzernde Pracht der Sterne. Das Sternenfest feierte die einzige Nacht im Jahr, in der die Prinzessin und ihr Liebster über eine magische, von Elstern gebaute Brücke zueinanderkommen konnten.
»Als ich jung war, habe ich das Sternenfest auch sehr gemocht«, sagte Hiroshi. »Aber inzwischen macht es mich traurig. Denn es gibt keine magischen Brücken, jedenfalls nicht im wahren Leben.«
Er meint Hana und sich , dachte Shigeko. Er hat so lange gelitten. Man sollte ihn verheiraten. Wenn er Frau und Kinder hätte, käme er endlich darüber hinweg. Doch sie brachte es nicht über sich, ihm vorzuschlagen, er solle heiraten.
»Früher habe ich mir die Sternenprinzessin immer mit dem Gesicht Ihrer Mutter vorgestellt«, sagte er. »Aber vielleicht gleicht sie eher Ihnen und zähmt die Rosse des Himmels.«
Tenba, der gehorsam zwischen ihnen getrabt war, erschrak plötzlich vor einer Taube, die von der Dachtraufe des Schreines aufflog, und sprang zurück, wobei er Shigeko das Band aus der Hand riss. Sie rannte ihm nach, um ihn zu beruhigen, doch er schoss an ihr vorbei, streifte sie dabei mit der
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