Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
den Morgen mit den Ãbungen. Sie zeigte ihm, wie Mädchen im Westen das Kämpfen lernten, dann fanden sie alte Bambusstangen in den Nebengebäuden und übten damit. Naomis Kraft und Schnelligkeit überraschten ihn.
»Eines Tages werden wir Seite an Seite kämpfen«, versprach sie ihm, als die Hitze sie zwang, aufzuhören und in den Schatten zurückzugehen. Sie atmete schwer, Schweià glänzte auf ihrer Haut. »Nie habe ich mich so von einem Mann sehen lassen«, sagte sie lachend. »AuÃer Sugita Haruki, der mich den Schwertkampf lehrte.«
»Es steht dir«, sagte er. »Du solltest öfter so auftreten.«
Die Hitze dauerte an und nach dem Abendessen bat Naomi Sachie, eine Geistergeschichte zu erzählen.
»Das wird uns einen Schauer über den Rücken jagen und uns abkühlen.« Naomi war in gehobener Stimmung, von strahlender Schönheit und überströmendem Glück.
»Dieser Schrein ist angeblich verhext«, sagte Sachie.
»Gibt es einen, der das nicht ist?« Shigeru erinnerte sich an Seisenji.
»Euer Lordschaft hat Recht«, antwortete sie und lächelte leicht. »Viele unheimliche Dinge geschehen an diesen abgelegenen Orten. Ungebildete Menschen fürchten sich vor ihren eigenen gewalttätigen Gedanken. Sie verwandeln ihre eigene Angst und ihren Hass in Geister.«
Ihr Verständnis beeindruckte ihn. Er sah, dass sie interessanter war, als er zuerst geglaubt hatte. Sie war so still und zurückhaltend, er war so von Naomi besessen gewesen, dass er ihre Intelligenz, ihre lebhafte Fantasie übersehen hatte.
»Erzähl uns, was hier geschehen ist«, bat Naomi. »Ah, mich schaudert schon!«
Sachie begann ihre Geschichte mit tiefer, sonorer Stimme. »Vor vielen Jahren wohnten an diesen Küsten böse Männer, die davon lebten, dass sie Schiffe auf die Felsen lockten. Sie töteten die Ãberlebenden der Schiffbrüche und verbrannten alles bis auf das, was sie für sich nahmen, damit es keine Zeugen und keine Beweise gab. Die meisten ihrer Opfer waren Fischer, gelegentlich Händler, doch eines Nachts brachten sie ein Schiff zum Kentern, das die Tochter eines Lords zu ihrer Verlobung in eine Stadt im Süden trug. Das Mädchen war dreizehn Jahre alt. Sie wurde an den Strand geschwemmt, als das Schiff sank und ihr Gefolge ertrank. Die Ladung bestand aus ihren Verlobungsgeschenken: Seide, Gold undSilber, Kästen aus Lack und Zelkovenholz, Weinkrügen. Sie bat die Männer, ihr Leben zu verschonen, ihr Vater werde sie belohnen, wenn sie zu ihm zurückgebracht werde, doch die Männer glaubten ihr nicht. Sie schnitten ihr die Kehle durch, füllten ihre Gewänder mit Steinen und warfen ihre Leiche ins Meer. In dieser Nacht, während sie ihren Fang feierten, hörten sie Geräusche aus diesem Schrein und sahen Lichter. Flötenmusik wurde gespielt, Menschen sangen und lachten.
Als die Männer näher schlichen und nachschauten, sahen sie das Mädchen, das sie ermordet hatten, mitten im Raum sitzen, umgeben von ihren Dienerinnen und ihrem Gefolge. Neben ihr war ein groÃer Lord, schwarz gekleidet, sein Gesicht war verborgen. Die Männer glaubten, sie seien gut versteckt, doch das Mädchen sah sie und rief: âºUnsere Gäste sind da! Sie müssen hereinkommen und mit uns feiern.â¹
Die bösen Männer wollten weglaufen, doch ihre Beine gehorchten ihnen nicht. Der Blick des Mädchens zog sie in den Schrein, und als sie zitternd vor ihr standen, sagte sie: âºIhr habt mich mit dem Tod verlobt und das ist mein Hochzeitsfest. Jetzt will mein Mann euch kennenlernen.â¹ Und der Mann an ihrer Seite stand auf: Der Tod starrte ihnen ins Gesicht. Sie konnten sich nicht bewegen. Er zog sein Schwert, tötete sie alle und setzte sich wieder neben seine Frau.
Das Fest wurde noch wilder fortgesetzt und die Frauen der toten Männer sagten zueinander: âºWo sind unsere Ehemänner? Sie genieÃen die gestohlenen Sachen ohne uns!â¹ Sie liefen zum Schrein und drangen ein, und das Mädchen sagte zu ihnen: âºIch bin froh, dass ihrgekommen seid. Mein Mann möchte euch kennenlernen.â¹ Und der Lord stand auf, zog sein Schwert und tötete ebenfalls sämtliche Frauen.«
»Hatten sie Kinder?«, fragte Naomi. »Was war mit ihnen?«
»Ihr Schicksal ist nicht überliefert«, sagte Sachie. »Doch danach war dieser Ort unbewohnt.«
»Bis
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