Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
strudelte über die beschnittenen unteren Erlenstämme und brauste über die Steine in seinem Bett, wobei sein ohrenbetäubender Lärm wie vielstimmiges Männergeschrei klang. Shimon hatte schon streng mit Tomasu reden müssen, weil der Junge zuerst ein Kitz und seine Mutter verfolgen wollte, die am Teich getrunken hatten, und dann von einem Paar Eisvögel abgelenkt worden war. Shimon bückte sich, bündelte die schon geschnittenen Stangen und trug sie den Hang hinauf, damit sie nicht fortgespült wurden. Er lieà Tomasu nur einen Augenblick allein, aber als er sich nach ihm umdrehte, sah er, wie sein Stiefsohn eilig stromabwärts in Richtung Dorf verschwand.
»Du Nichtsnutz!«, rief er ihm nach und schwankte zwischen dem Wunsch weiterzuarbeiten und dem Verlangen, ihn zu verfolgen und zu bestrafen. Sein Zorn gewann die Oberhand. Er packte eine der Stangen und lief stromabwärts. »Diesmal werde ich ihn ordentlich verhauen! Wir sind zu nachgiebig mit ihm! Das tut ihm auf Dauer nicht gut.«
Er murmelte immer noch vor sich hin, als er um die Biegung des Flusses kam und sah, wie seine jüngste Tochter Madaren in dem lehmigen Wasser verzweifelt um sich schlug. Offenbar hatte sie versucht, den Fluss auf den Trittsteinen zu überqueren, war ausgerutscht, ins tiefe Wasser gestürzt und versuchte sich jetzt zu retten, indem sie nach den freigespülten Wurzeln am Ufer griff.
Tomasu hatte sie schon erreicht. Das kleine Mädchen kreischte, doch Shimon hörte sie kaum über dem Brausen des Wassers. Er lieà seinen Stock fallen und sah, wieder Fluss ihn geschwind davontrug. Tomasu konnte dort, wo Madaren ins Wasser gestürzt war, gerade stehen. Er löste ihre Finger von der Wurzel, die sie gepackt hatte, und das Kind warf sich auf ihn und umklammerte ihn wie ein Affenbaby die Mutter. Er drückte sie fest an seine Schulter und brachte sie halb schwimmend, halb watend ans Ufer, wo Shimon sie ihm abnahm.
Sara kam herbeigelaufen, dankte dem Geheimen, dass das Kind gerettet war, schimpfte mit Maruta, weil sie nicht auf die Kleine aufgepasst hatte, und lobte Tomasu.
Shimon betrachtete seinen Stiefsohn, als der ans Ufer hüpfte und sich das Wasser aus dem Haar schüttelte wie ein Hund. »Warum bist du hergerannt? Du bist gerade rechtzeitig gekommen!«
»Mir war, als hätte sie mich gerufen«, antwortete Tomasu. Dann runzelte er die Stirn. »Aber ich hätte sie gar nicht hören â¦Â« Der Lärm des Flusses neben ihnen übertönte jeden anderen Laut.
»Der Geheime muss dich herbeigerufen haben«, sagte Shimon ehrfürchtig, nahm die Hand des Jungen und zeichnete ihm mit dem Finger das Zeichen der Verborgenen in seine Handfläche. Er hatte das Gefühl, dass Tomasu auf bestimmte Weise ausgewählt worden war, vielleicht um einmal ein Führer der Verborgenen zu werden, der Nachfolger von Isao. Er sprach nun an den Abenden ernster mit ihm über geistige Dinge und führte ihn tiefer in die Ãberzeugungen der Verborgenen ein. Trotz Tomasus heftigem Temperament und seiner Rastlosigkeit war Shimon davon überzeugt, dass der Junge eine natürliche Freundlichkeit und eine Abneigung gegenüber Grausamkeit hatte, die beide Eltern nach Kräften unterstützten.
Fremde oder Reisende kamen selten nach Mino. Das Dorf lag verborgen in den Bergen, es gab keine StraÃen in der Nähe, nur schmale Pfade über den Berg und am Fluss entlang durchs Tal. Beide waren fast unpassierbar, überwachsen, weil sie kaum benutzt wurden. Ein Erdrutsch hatte vor ein paar Jahren den Pfad durchs Tal fast versperrt. Gelegentlich überquerte der eine oder andere der Männer den Pass nach Hinode und kehrte mit Neuigkeiten und Gerüchten zurück. Es war fast sechzehn Jahre her, dass der Fremde gekommen und wieder verschwunden war, über vierzehn seit der Geburt seines Sohnes. Tomasu war zu einem bemerkenswert gut aussehenden jungen Mann herangewachsen. Niemand neckte ihn mehr und er geriet auch nicht mehr in Kämpfe. Shimon stellte fest, dass Jungen wie Mädchen Tomasus Gesellschaft suchten, und der Stiefvater begann über Möglichkeiten einer Heirat nachzudenken. Er gab Tomasu immer mehr Aufgaben und verlangte, dass er seltener auf den Berg lief, sondern zusammen mit den Männern des Dorfes arbeitete und sich auf das Leben als Erwachsener vorbereitete.
Meistens gehorchte Tomasu ihm, doch eines Abends früh im neunten Monat
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