Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
sehr klug.“
„So klug wie du?“
„Ach, noch viel klüger! Sie finden den Weg zu vielen Orten, indem sie einfach die Sterne und ihre Bahnen beobachten. Das nennt sich Navigation – wenn man seinen Weg mithilfe der Sterne findet.“
„Aber du hast mir doch von dem Stern im Norden erzählt. Du findest auch deinen Weg mit seiner Hilfe.“
„Das ist leicht. Der Stern bewegt sich nie. Er steht immer hoch am Himmel. Er ist mein einziger Wegweiser. Aber die Eulen nehmen alle Sterne zu Hilfe – über den ganzen weiten Himmel.“
„Vielleicht liegt es daran, dass sie fliegen können und den Himmel deshalb besser kennen.“
Donnerherz drückte den Welpen kurz an sich. Was war er doch für ein kluger kleiner Wolf!
Faolan gähnte und sagte schläfrig: „Eines Tages gehe ich zu den Ufern des Hoolemeers. Vielleicht schwimme ich sogar zu der Insel hinüber. ‚Hoole‘ ist ein komisches Wort. Was bedeutet es denn?“
„Nun ja“, seufzte Donnerherz, „manche sagen, es sei ein Wolfswort. Das Wort der Wölfe für ‚Eule‘.“
Aber Faolan hörte schon nicht mehr zu – er war in ihren Armen eingeschlafen.
Als der Sommer langsam zu Ende ging, hatte Donnerherz nur noch einen Gedanken im Kopf: Fressen! Fressen, so viel sie nur konnten, bis der Winter kam. Der Kaltschlaf nahte und bis dahin mussten sie fett genug sein. Doch außer ihrer ständigen Sorge um Faolans Größe und der drängenden Fettfrage plagte sie noch etwas anderes – die Furcht vor dem Kaltschlaf. Bald musste sie einen Winterbau finden, der weiter vom Fluss entfernt war. Donnerherz hatte jeden einzelnen Winter ihres Lebens verschlafen und wusste nicht, ob Wölfe sich im Winter in ihren Bau verkrochen und endlose Tage schliefen. Von der Winterwelt und was andere Tiere in dieser Zeit machten, wusste sie fast gar nichts. Wie sollte sie es also Faolan erklären? Sie wusste nur, dass sie sich während ihres Schlafs veränderte. Sie wurde dünner und wenn sie einmal aufstand, war ihr Verstand vernebelt. Wenn sie schlief und Faolan nicht – wie sollte sie ihn dann beschützen? Vielleicht sollte sie ihn warnen? Aber jetzt noch nicht.
Nein, jetzt war Lachszug. Die Lachse schwammen den Fluss hinauf zu ihren Laichgründen. Donnerherz und Faolan wateten in das Flachwasser oberhalb einer kleinen Stromschnelle, wo Dutzende von Lachsen hinaufschwärmten. Die Bärin schöpfte sie mühelos aus dem Wasser oder fing sie in der Luft, wenn sie emporschnellten.
So einfach hatte Faolan noch nie Fische gefangen. Er hielt einen Augenblick inne und schaute seiner Bärenmutter zu. Donnerherz stand nach Westen gewandt und die untergehende Sonne färbte ihre Augen golden. Eine tiefe Zuneigung strömte durch Faolans Körper, als ihm bewusst wurde, wie verschieden sie waren. Er hatte jenen Tag vor vielen Monden, an dem sie der Grizzlymutter und ihren beiden Jungen begegnet waren, ganz aus seinem Gedächtnis verbannt. Seither ließ er solche Gedanken gar nicht mehr in seinen Kopf. Aber jetzt erinnerte er sich, wie sie vor ein paar Tagen das Rentier zur Strecke gebracht hatten und Donnerherz ihm zum ersten Mal von den Frostlanden erzählt hatte – und dass es vielleicht kein guter Ort für „seine Art“ war.
Die Bärin sprach hin und wieder von Wölfen, aber Faolan hatte noch nie einen gesehen. Er kannte nur das Sternbild des Großen Wolfs am Himmel und konnte sich nicht viel unter einem richtigen, lebendigen Wolf vorstellen. Aber Wölfe interessierten ihn nicht weiter. Er musste nur in Donnerherz’ goldene Augen blicken, dann wusste er, dass sein Leben vollkommen war. Diese Augen bedeuteten die Welt für ihn. Mehr brauchte er nicht.
Endlich hieß es Abschied nehmen von dem Bau am Fluss. Eines Morgens, lange vor der Dämmerung, machten sie sich auf den Weg, um einen Winterbau in den höheren Regionen der Hinterlande zu finden. Donnerherz stellte hohe Ansprüche an ihren Winterbau. Die meisten Grizzlys gruben sich eine Höhle unter einer großen Baumwurzel aus. Aber Bäume waren dünn gesät in diesem Teil der Hinterlande oder sie wuchsen an tiefer gelegenen Hängen. Gute, natürliche Felsenhöhlen oder vielleicht sogar verzweigte Höhlengänge in den Lavaschichten waren nur oberhalb der Baumgrenze zu finden. Außerdem kam der Schnee im Hochland früher, sodass der Bau über einen längeren Zeitraum hinweg gut isoliert war.
Gegen Mittag hatten sie das weite, ebene Wiesental durchquert. Donnerherz zwängte ihren gewaltigen Rumpf durch das niedrige Farn- und
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