Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
den Kaltschlaf. Anfangs war es nur ein kurzes Hindämmern. Sie ermahnte Faolan häufig, dass er hinausgehen und die Hänge nach Hasen und Murmeltieren absuchen sollte. Ihr Schützling musste sich daran gewöhnen, allein zu jagen. Wenn er zurückkam, brachte er immer ein wenig Fleisch für Donnerherz in seinem Bauch mit. Instinktiv hatte er begriffen, dass er die großen Fleischbrocken, die in seinem ersten Magen landeten, wieder heraufwürgen konnte. In einem dampfenden Haufen spie er sie vor Donnerherz auf den Boden. Als er ihr das erste Mal Fleisch brachte, raffte die Bärin sich auf und schüttelte den Schlaf ab, der sie wie ein dicker Mantel einhüllte. Aber nach dem ersten starken Schneefall wurde es immer schwieriger, sie aufzuwecken. Donnerherz schlief jetzt so tief, dass ihr gewaltiges Herz nur noch leise und langsam schlug, so wie sie es ihm erklärt hatte. Eine große Stille war über sie gekommen und sie sank immer tiefer in einen bewusstlosen Schlaf.
Faolan gefiel die Stille nicht. Sie machte ihm Angst. Der gewaltige Herzschlag der Bärin war seine erste Erinnerung. Jetzt war das vertraute Geräusch verschwunden. Nicht nur die Langeweile trieb ihn also aus dem Bau, sondern die Stille. Auch wenn die Bärin noch so riesig war, kam sie ihm in ihrer Stille und Reglosigkeit wie ein bloßer Schatten ihres Sommer-Ichs vor. Er verstand nicht, wie sie so viel schlafen konnte. Und während sich die Rhythmen von Donnerherz’ Körper verlangsamten, wurde Faolan immer unruhiger.
Faolan war ganz wild auf Schnee – je höher er lag, desto besser. Begeistert sprang er durch frische Schneewehen und wirbelte riesige Pulverschneewolken auf. Unten in den Niederungen der großen Wiese hatte der Wind den Schnee zu einer riesigen harten Oberfläche festgebacken und Faolan schlitterte fröhlich darauf herum. Er war ein Meister der Hasenjagd geworden, spürte die großen Schneehasen auf und fraß ihr Fleisch, das köstlich schmeckte.
Faolan liebte alles am Winter – den merkwürdigen grauen Himmel, wenn die Dämmerung sich herabsenkte, das tiefviolette Licht der Nacht und den großen Funkelstern, der im Norden hing, sich nie bewegte und ihn immer zum Bau zurückführte. Das vereiste Farngestrüpp, das durch die Schneewehen hindurchblitzte, war so leuchtend wie die Sternbilder, die an der nächtlichen Himmelskuppel schwebten. Eines Nachts, kurz nach dem ersten Schneefall, hatte er in der Ferne ein grandioses Spektakel beobachtet. Es war der Wasserfall, den sie auf ihrem Weg zum Winterbau passiert hatten. Das Wasser war jetzt gefroren, mitten in der Luft erstarrt, wie Silberflammen in einem ewigen Winter gefangen.
Die Tage wurden immer kürzer, je mehr die Erde sich von der Sonne wegdrehte. Dafür wurden die Nächte länger. Eines Nachts glaubte Faolan etwas Neues zu hören – ein langes, melodisches Heulen, das sich langsam in der Schwärze entfaltete wie ein Banner aus Tönen. Faolan war wie elektrisiert. Was in aller Welt war das nur? Es war neu und doch seltsam vertraut. Und mit einem Mal verspürte er den Drang, zurückzuheulen. Staunend stellte er fest, dass er die Worte, die in das Heulen eingebettet waren, mühelos verstand: Ich bin hier, hier mit meiner Wölfin. Unsere Schwestern und Brüder sind zurückgekehrt. In einem Mond, wenn die Paarungszeit beginnt, werden wir weiterziehen.
Doch was bedeutete die Botschaft? Einiges kam ihm merkwürdig vor und ergab keinen Sinn. Was war eine Schwester? Oder ein Bruder?
Nacht für Nacht ging er hinaus, um dem Heulen zu lauschen. Er verstand immer mehr, aber trotz seiner wachsenden Neugier wagte er sich nicht näher heran. Denn in der Botschaft lag auch eine Warnung. Das ist unser Gebiet. Wage es nicht, die Grenze zu überschreiten. Die Warnung war so klar wie jede Duftmarke. Am Ende des Mondzyklus verstummte das Heulen. Die Wölfe waren fortgegangen, so wie sie es angekündigt hatten.
Zum ersten Mal fühlte Faolan sich ein wenig einsam. Nach der ersten gesanglosen Nacht kehrte er in den Bau zurück, um nach Donnerherz zu sehen. Will sie denn ewig schlafen? , fragte er sich. Die Bärin schlief jetzt nicht mehr im Sitzen, sondern lag auf der Seite. Faolan rollte sich neben ihr ein und lauschte dem langsamen Schlagen ihres Herzens. So langsam, so langsam , dachte er. Und dennoch fand er noch immer Trost darin.
Dann kam der Tag, an dem die Erde sich wieder der Sonne zuneigte. Die Schwärze am Eingang des Baus erschien ihm heller. Er spürte sogar, wie der Herzschlag der
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