Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
Tod. Er wusste mit niederschmetternder Gewissheit, dass seiner geliebten Milchgeberin etwas Schreckliches passiert war.
Am anderen Ende der Hinterlande hatte sich die Wölfin Morag in ein neues Rudel eingefügt. Sie hatte einen neuen Gefährten gefunden und einen gesunden Wurf zur Welt gebracht. Niemand kannte ihre Geschichte, sogar sie selbst hatte beinahe alles vergessen. Sobald die Obea mit dem Jungen im Maul davongetrottet war, um es zu einem Tummfraw zu bringen – dem Ort, an dem das missgebildete Junge ausgesetzt wurde –, hatte Morag bereits tief in ihrem Inneren Schranken des Vergessens aufgebaut. Diese Schranken waren wie ein unsichtbares Narbengewebe. Es stärkte sie, damit sie weitermachen – weiterleben – konnte. Das war bei allen Wolfsmüttern so, die den unaussprechlichen Schmerz erlitten, ein Malcadh -Junges an die Obea zu verlieren. Sie vergaßen schnell. Und im Kielwasser des Vergessens nistete sich dort, wo das Junge in ihrem Leib herangewachsen war, eine Zeit lang tiefe Dunkelheit ein. Aber bald verblasste das Dunkel und zurück blieb nur ein grauer Schatten, dessen sie sich kaum bewusst waren. Nur so konnten sie einen neuen Gefährten finden und neue Junge gebären.
Morag war im Moment voll und ganz von ihrem Wurf in Anspruch genommen, einem übermütigen Trio von schönen, gesunden Welpen mit rötlichem Fell. Fast einen Mondzyklus waren die Jungen jetzt schon auf der Welt und erkundeten eifrig die Wurfhöhle mit ihren winzigen Milchzähnen. Allmählich wurden sie auch kühner und drängelten sich näher an das weiße Licht am Eingang des Baus heran. Morags Partner half ihr, sie im Zaum zu halten. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Jungen regelmäßig hinauslaufen und unter der Obhut ihrer Eltern die Umgebung erforschen durften. Dann würden sie auch schon ein wenig Fleisch fressen. Schließlich mussten sie entwöhnt und ein anderer Bau näher beim restlichen Rudel gefunden werden, das dem Clan der MacDonegal angehörte.
An diesem Tag wollte Morag die Jungen bei ihrem Vater zurücklassen und einen Ausflug ins Herz des MacDonegal-Territoriums machen, um nach einem geeigneten Bau zu suchen. Nach dem heftigen Schneesturm, der von Norden hereingefegt war und starken Schneefall im Grenzgebiet zwischen den Hinterlanden und den Frostlanden gebracht hatte, war es dort noch recht stürmisch. Bei ihnen war dagegen nur Regen und Graupel niedergegangen. Im Westen hellte der Horizont sich auf und verhieß besseres Wetter.
Morag wanderte an einem Bachbett entlang. Seit dem Erdbeben war das ganze Gebiet wie umgewälzt. Felsblöcke, die sie nie zuvor gesehen hatte, waren von den Bergen hinabgestürzt und blockierten mehrere Flussabschnitte, sodass sich überall kleine Wasserbecken bildeten. Es war jetzt nicht mehr so einfach, dem Bach tiefer in das MacDonegal-Territorium zu folgen. Nach mehreren Stunden Marsch stellte Morag fest, dass sie das MacDonegal-Land längst hinter sich gelassen hatte. Also hielt sie sich näher am Fluss, der in die Frostlande führte.
Dann erregte etwas ihre Aufmerksamkeit – nicht die riesigen Felstrümmer, sondern ein kleiner Bachkiesel, der vom Wasser ganz blank poliert worden war. Morag hatte gerade ihre Vorderpfoten in einen flachen Tümpel gesetzt, als sie den Stein entdeckte. Er schimmerte wie ein dunkler Mond und bei näherem Hinsehen entdeckte sie ein Muster aus wirbelnden Linien. Wie die Stromschnellen in dem Bach, in dem sie stand, kreisten diese Linien endlos umeinander. Das Spiralmuster hatte etwas geradezu Hypnotisches. Aber vor allem rührte es eine dunkle Erinnerung in Morag auf. Eine verstörende Erinnerung. Steifbeinig watete sie in den Bach hinein, mit pfeilgerade ausgestrecktem Schwanz, und schlug heulend Alarm.
Doch statt einer Antwort von anderen Wölfen zerriss nur ein heiserer Laut die Luft. Kra! Kra! Es war der Ruf eines Raben, der einen Kadaver entdeckt hatte. Aber es war nicht nur eine Ankündigung, sondern auch ein Hilferuf. Ohne die scharfen Reißzähne der Wölfe kamen die Raben nicht an das Fleisch eines großen Tieres, weil die Haut viel zu zäh war. Normalerweise hätte dieser Laut Morag sofort aufhorchen lassen. Aber nicht an diesem Tag. Wenn sie ihre Jungen dabeigehabt hätte, hätte ihr der Ruf des Raben als wichtige Lektion für die Kleinen gedient. Aber da sie allein war, schreckte sie davor zurück.
Noch immer stand sie im Bach und richtete den Blick wieder auf die kreisenden Linien in dem polierten Stein. Was ist das?
Weitere Kostenlose Bücher