Der Clan
Anscheinend weiß es ganz Detroit. Es hat an dem Tag angefangen, als sich die beiden im Dampfbad des Athletic Clubs kennenlernten.«
Sie merkte an seinen Augen, wie der Schock ihn traf. Seine Hand begann zu zittern, der Whisky floß über den Rand des Glases; langsam stellte er es auf den Tisch neben sich. Sie sah, wie der graue Schatten des Alters sich in sein Gesicht grub. Plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht, und ein heftiges, gequältes Schluchzen schüttelte seinen Körper.
Einen Augenblick verhielt sie sich ganz still, dann kniete sie vor seinem Stuhl nieder. Sie zog seinen Kopf an ihre Schulter und drückte ihn fest an sich.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Es tut mir so leid!«
Wenige Minuten nach sieben Uhr abends stieg Melarne Walker aus der Straßenbahn und machte sich auf den Weg in ihre vier Häuserblocks entfernte Wohnung. Es war nach dem morgendlichen Regen kalt geworden, und nun blies der Abendwind scharf durch ihre dünnen Kleider. Sie zog den Mantel eng um sich und bog in die Nebenstraße ein.
»Du kommst spät«, sagte ihre Mutter, als sie eintrat. »Wir haben schon gegessen. Du wirst dich mit dem begnügen müssen, was übriggeblieben ist.«
»Das macht nichts«, sagte Melanie. »Ich habe keinen
richtigen Hunger.«
Sie legte den Mantel ab, ging ins Zimmer und hängte ihn sorgfältig auf einen Kleiderbügel an der Tür. Dann zog sie Kleid und Höschen aus und legte sie säuberlich aufs Bett. Sie würde nach dem Abendessen die Falten plätten, damit alles für den Morgen wieder frisch und nett aussah. Sie schlüpfte in ein Kattunhauskleid, band die Schärpe um die Taille und ging in die Küche.
Ihre Mutter hatte etwas Aufschnitt auf einem Teller angerichtet, dazu ein paar bräunliche Salatblätter, matschige aufgeschnittene Tomaten und Brot und Butter.
Sie warf einen Blick darauf. »Doch nicht schon wieder Leberwurst und Salami?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Was hast du denn erwartet? Du hättest rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein sollen.«
»Ich hatte noch zu arbeiten. Heute war ich im Büro von Mr. Hardeman.«
»Du hättest anrufen sollen.«
»Ich hatte keine Zeit. Außerdem weißt du ja, daß Mr. McManus nicht gern gestört wird.«
McManus wohnte eine Treppe tiefer, ein städtischer Polizeibeamter und der einzige Mieter im Haus, der ein Telefon besaß.
»So viel belästigen wir ihn gar nicht«, sagte ihre Mutter.
Melanie begann gerade, Butter auf ein Brot zu streichen, da fragte ihr Vater: »Warum kommst du so spät?«
»Ich mußte heute länger in Mr. Hardemans Büro arbeiten«, erklärte sie und nahm sich ein Stück Leberwurst.
Ihr Vater grinste. »Bei dem brauchst du wenigstens keine Angst zu haben, daß er dir unter die Röcke faßt, wenn du an seinem Schreibtisch vorbeigehst.«
»Das war nicht er, sondern sein Vater«, sagte sie und kaute an der Leberwurst. Sie schmeckte mehlig und fade.
»Du meinst Nummer Eins?« fragte ihr Vater neugierig. »Ist der wieder hier?« - Sie nickte.
»Das wird aber deinen Freund nicht freuen!«
Sie starrte ihn an. »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß Mr. Warren nicht mein Freund ist. Daß ich ab und zu mit ihm zu Abend esse, sagt gar nichts.«
»Schon gut, schon gut«, meinte ihr Vater beschwichtigend. »Er ist also nicht dein Freund. Aber freuen wird es ihn trotzdem nicht. Mit Nummer Zwei macht er, was er will. Beim Alten ist das anders. Den kann keiner rumschubsen.«
Melanie probierte die Salami; sie war auch nicht besser. Sie schob den Teller fort: »Ich hab keinen Hunger. Hast du eine Tasse Kaffee für mich?«
»Wie wär’s mit Eiern?« fragte ihre Mutter.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Bloß Kaffee.« Sie sah ihren Vater an. »Hast du dich heute nach Arbeit umgesehen?«
»Wozu?« fragte er. »Es gibt ja nichts.«
»Bei uns waren heute sechs Stellen für Maschinenschlosser ausgeschrieben. Über achthundert Männer haben sich drum beworben.«
»Erwartest du vielleicht von mir, daß ich mit dem Haufen Bauern, Polacken und Niggern Schlange stehe? Vergiß nicht, ich war bei Chrysler Werkmeister!«
»Aber jetzt bist du gar nichts«, sagte die Mutter. »Schon seit drei Jahren arbeitslos. Wenn Melanie keine Arbeit hätte, würden wir auf der Straße sitzen.«
»Du halt dich hier raus!« fuhr sie der Vater wütend an. Er wandte sich wieder an Melanie. »Hat denn dein Freund nicht versprochen, daß ich die erste Stelle bekomme, die frei wird?«
Melanie nickte.
»Aber das war für den Posten eines
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