Der Club der Teufelinnen
behandeln lassen, eine Therapie begonnen und sich Beruhigungsmittel verschreiben lassen. Eine ganze Weile hatten sie so dahingelebt. Das konnte Aaron nicht verkraften. Dann hatte er etwas über Dr. Rosen, die Sexualtherapeutin, gelesen und darauf bestanden, daß Annie sich von ihr behandeln ließ.
Ganz bestimmt hatte Dr. Rosen ihr dabei geholfen, die Schleier von den Wahrheiten ihres Lebens zu reißen. Sie hatte sie erkennen lassen, wie sehr sie von ihrer Mutter vernachlässigt worden war, wieviel an Wut und Trauer in ihr steckte. Annie hatte sogar Aaron geholfen, ihre Eheprobleme zu erkennen. Und sie hatte sie auch bei der Suche nach einer Schule für Sylvie unterstützt. Dann hatte Aaron sich von ihr getrennt, und als Annie sich weigerte, einer Scheidung zuzustimmen, hatte Dr. Rosen die Therapie einfach abgebrochen. Gerade jetzt vermißte Annie ihre Therapeutin, hätte sie ihren Rat ganz besonders nötig gehabt. »Sie leben immer noch in einer Traumwelt. Sie weigern sich, die Realität zu erkennen«, waren Dr. Rosens Worte gewesen. »Es gibt nichts mehr, was ich für Sie tun könnte.«
Annie war schwindlig. Besser, sie ging diesen Tag so ruhig wie möglich an. Sie überlegte kurz, ob sie Brenda anrufen sollte. Sie hatte ja angeboten, sie zu begleiten. Zuerst hatte Annie die letzten Augenblicke allein mit Sylvie verbringen wollen, aber jetzt brauchte sie doch jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Sie blickte auf die Uhr. Es war erst Viertel nach sieben. Sie konnte unmöglich anrufen. Brenda würde sie umbringen. Schließlich war ja auch niemand gestorben, dachte sie ironisch. Mir ist zwar ganz so zumute, aber ich werde es auch ohne Anruf überleben. Bislang habe ich fast alles allein geschafft, und ich werde es auch diesmal schaffen.
Sylvies Zimmer war fast leergeräumt. Eigentlich waren nur noch sie und Pangor, der Siamkater, reisefertig zu machen. Annie zog die Vorhänge auf und blickte auf ihr schlafendes Kind. Sylvies weißblonde Locken waren über das Kissen gebreitet, das Gesicht im Schlaf entspannt. Trotz der typischen deformierten Augenpartie, die den Ausdruck ›mongoloid‹ geprägt hatte, und weil der Schlaf die unmißverständliche Leere ihres Gesichtsausdrucks nicht so auffällig werden ließ, erinnerte dieses Bild Annie an Sylvies Kindergesicht.
»Sylvie.« Annie berührte sanft ihre Schulter. Soweit sie wußte, war Sylvie immer sanft und liebevoll behandelt worden, so wie Pangor. Ganz wie er dehnte und streckte sie sich jetzt, dann breitete sie die Arme aus. Als Annie sie an sich drückte, hoffte sie, daß sie immer in guter Hut sein würde, um ihr vertrauensvolles, sanftes Wesen bewahren zu können. »Hallo, Mam-Pam.« Sylvies Redeweise war ein bißchen undeutlich, aber ohne weiteres zu verstehen, wenn man sich etwas Mühe gab. Viele waren dazu nicht bereit.
»Hallo, Sylvie.«
»Hallo, Pangor.« Der Kater reckte sich erneut und wälzte sich auf den Rücken. Sanft streichelte Sylvie seinen seidenweichen Bauch.
»Zeit zum Aufstehen für euch beide. Du weißt doch, was wir heute machen werden, nicht wahr?«
»Zur Schule gehen«, flüsterte Sylvie. Ganz tief in ihren Augen saß ein Fünkchen Angst, das Annies Erzählungen und Vorbereitungen nicht hatten auslöschen können. »Aber nach einer Weile werde ich es dort mögen.« Wie ein Papagei plapperte sie nach, was Annie ihr immer wieder und wieder gesagt hatte. Annie nickte ihr zu. »Und Pangor kommt auch mit, nicht, Mam-Pam?«
»Aber gewiß doch.«
Sylvie warf die Decke ab und stand auf. Ihre Bewegungen waren tapsig und ein wenig schwerfällig. Und so voll Vertrauen.
»Na dann waschen und anziehen. Hudson wird gleich nach dem Frühstück hier sein.« Sylvie lächelte. Sie mochte Hudson, und er mochte sie. Annie sah, wie ihre Tochter sich aus dem Schlafanzug strampelte, dann wandte sie sich ab und ging zurück in die Küche. Tränen standen ihr in den Augen.
Die Schule war gar nicht so weit fort, sagte sie sich. Nicht einmal zweihundert Kilometer in Richtung Norden, in einer ruhigen Gegend im Staat New York. Sie erinnerte sich daran, wie sie, sogar noch jünger als Sylvie heute, ins Internat gekommen war. Sie war genauso verwirrt und aufgeregt gewesen wie Sylvie, nur daß sie keine Mutter gehabt hatte, die sie begleitete. Denn ihre Mutter war ja weggelaufen. Und nie wiedergekommen. Sie hatte sich weder von Annie noch von Annies Vater verabschiedet, und dieser hatte Annie in seiner Ratlosigkeit ins Internat gegeben.
Es schien ihr, als ob sie
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