Der Code des Luzifer
nicht riskieren, festgenommen zu werden. Auf der Straße nördlich um den See herum, also auf Schweizer Seite, war viel zu viel Verkehr. Statt zwei Stunden wäre er gut und gern doppelt so lang unterwegs. Der See war über siebzig Kilometer lang und danach folgte der Aufstieg ins Gebirge – wie viel Zeit hatte er noch?
Max betrachtete die eleganten Jachten und Motorschiffe, die in mehreren Reihen an ihren Pontons in der Marina gegenüber dem Park lagen. Während er schnell darauf zuschritt, suchten seine Augen ein Boot, irgendeins, das er nehmen konnte. Stehlen heißt das, rief er sich ins Gedächtnis. Er würde eins aufbrechen und irgendwie starten müssen. Plötzlich hörte er das leise Tuckern starker Motoren. Ein Boot näherte sich mit dem Bug voran einem Ponton, und eine Frau war im Begriff, die Leinen festzuzurren. Weiße Ledersitze hoben sich deutlich von dem blauen Bootskörper ab, der wie Glas glänzte. Ein Mann ging insHeck des Bootes und kontrollierte die Fender. Als die Frau ein paar Meter entfernt auf dem Kai das Tau um eine Klampe schlingen wollte, ging Max unbemerkt an Bord. Der Motor lief im Leerlauf. Max ergriff das Steuerrad aus Walnussholz, stemmte die Beine fest auf den Boden und schob die vier Gashebel nach vorn. Die Dieselmotoren wühlten erfolglos im Wasser, weil sie ihre Kräfte nicht entfalten konnten; die Heckschrauben lechzten danach, den schnittigen Bootskörper durch den ruhigen See zu jagen. Der Mann fiel über Bord, die Frau schrie, aber ihre Stimme ging im Dröhnen der Motoren unter. Das Boot erreichte dreißig Knoten und der Geschwindigkeitsmesser zeigte an, dass es sogar fünfzig schaffte.
So viel Kraft ängstigte Max. Er war schon früher mit seinem Dad auf Schnellbooten gefahren, aber das hier war, als stiege er von einem Fahrrad in die Formel 1 um. Er entfernte sich in weitem Bogen von der Küstenlinie. Die Sicht war gut, aber hinter den Bergen zogen dunkle Wolken auf. Schlechtes Wetter würde ihn die nächsten Stunden begleiten. Die Polizei würde sich an seine Fersen heften, aber das kam Max diesmal sehr gelegen. Er wollte sie zur Zitadelle führen. Dieses Boot war eine Million wert, und wenn er es stahl, erregte er damit bestimmt Aufmerksamkeit. Hoffentlich waren die Ordnungshüter schon da, wenn er drüben ankam. Es war Zeit, das Tier von der Leine zu lassen – er schob die Gashebel vor und das Boot wäre beinahe aus dem Wasser gesprungen. Max schob seine Angst beiseite, als er im Gegenwind über die Wellen flog.
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung stellte er vierzig Minuten später aber fest, dass niemand ihn verfolgte – vielleicht lag es an der Bürokratie, da die Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz den See horizontal durchlief. Gut möglich, dass man sich nicht entscheiden konnte, werdie Verfolgung übernehmen sollte, und als er die hämmernden Motoren drosselte und das schnittige Boot an das leere Ufer brachte, wusste er, dass er immer noch allein war. Angesichts der vor ihm aufragenden Berge fühlte er sich plötzlich klein und verwundbar. Doch etwas, das stärker war als Furcht, trieb ihn weiter. Max spürte, dass sich in ihm ein zorniger Sturm zusammenbraute. Sayid! Ob er verletzt war? Lebte er überhaupt noch? Sie mussten ihn am Flughafen in Biarritz erwischt haben. So viel Zeit war schon vergangen, und Max hatte keine Ahnung gehabt, dass sein Freund verschleppt worden war. Der dumpfe Schmerz, den er im Herzen spürte, kam von seinen Schuldgefühlen. Er hätte besser auf Sayid aufpassen müssen. Aber jetzt würde er es wiedergutmachen.
Schnee fegte über die Berggipfel und wurde in Schluchten und Gletscherspalten geweht, doch vom dunkler werdenden Himmel über ihm fielen keine Flocken. Max war einige Kilometer gelaufen und auf dem immer steileren Weg waren seine Beine allmählich müde geworden. Ein Schild ließ ihn anhalten. Es war auf Englisch, Französisch und Deutsch beschriftet – zur Sicherheit und um Missverständnisse auszuschließen. Er atmete tief durch. Zutritt verboten. Straße endet in 1 Kilometer. Wissenschaftlich es Forschungsgelände: Wiederansiedlung von Wildtieren. Vorsicht, Wölfe!
Bei Wachhunden tat man es vielleicht nicht unbedingt – bei Wölfen aber blieb jeder sofort wie angewurzelt stehen. Max zog die Karte heraus, nordete seinen Kompass und bestimmte die Richtung, in der sich die Gipfel der Zitadelle befanden. Er war auf Kurs. Die Umrisse waren steil, die Berghänge schwangen sich nicht weit von ihm zu
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