Der Codex
stank nach Ve r wesung, seine knochigen Gliedmaßen waren so grau und hohl wie der Tod. Es schwenkte eine brennende Fackel, mit der es ihn zu Boden geschlagen hatte, und drosch, den Mund vo l ler brauner Zähne, erneut kreischend auf ihn ein.
Der Teufel sollte ihn holen, wenn das nicht Maxwell Broadbents Geist war!
72
Als Hauser zu Boden fiel, überschlug er sich, ohne die Wa f fe loszulassen. Er fuhr herum, um wieder in Schussposition zu gelangen, doch es war zu spät: Maxwell Broadbents ze r lumpter Geist hatte sich auf ihn gestürzt. Er brüllte, schlug um sich und drosch Hauser die Fackel ins Gesicht. Funkenschauer stoben auf. Hauser roch versengtes Haar. Er versuchte, die Hiebe mit einer Hand abzuwehren, während er das Gewehr mit der anderen umklammert hielt. Es war unmöglich, einen Schuss a b zugeben, solange der Angreifer im Begriff war, ihm mit der brennenden Fackel die Augen au s zustechen. Da gelang es Hauser, sich loszureißen. Er lag auf dem Rücken, drückte blindlings ab und schlug in der Hoffnung, irgendetwas zu treffen, mit dem Lauf um sich. Doch das Gespenst schien verschwunden zu sein.
Hauser hörte auf zu schießen und setzte sich vorsichtig hin. Sein Gesicht und sein rechtes Auge fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. Er riss die Feldflasche aus seinem Rucksack und besprengte sich die Wangen mit Wasser.
Gott, tat das weh!
Er tupfte das Wasser ab. Heiße Asche und Funken hatten sich in seine Nasenlöcher, unter ein Augenlid, in sein Haar und die Backe gefressen. War das monströse Etwas aus der Grabkammer wirklich ein Geist gewesen? Hauser öffnete sein rechtes Auge. Es schmerzte. Als er es vorsichtig mit der Fingerkuppe betastete, bemerkte er, dass nur die Braue und das Lid verletzt waren. Die Hornhaut war intakt, er konnte noch sehen. Er schüttete etwas Wasser auf ein Taschentuch, wrang es aus und legte es sich aufs Gesicht. Was war pa s siert, verdammt? Obwohl er immer mit dem Unerwarteten rechnete, war er in seinem ganzen Leben noch nie so e r schrocken. Er hatte das G e sicht sogar noch nach vierzig Jahren wiedererkannt. Er kannte jedes Detail, jeden Au s druck, jedes Muskelzucken. Es gab keinen Zweifel: Ma x well Broadbent war höchstpersönlich wie ein kreischender Totengeist aus der Grabkammer gestürmt. Broadbent, den er tot und begraben gewähnt hatte: weiß wie ein Bettlaken, Haar und Bart gesträubt, ausgemergelt wie ein Skelett. Und außer sich.
Hauser fluchte. Was hatte er sich da bloß gedacht? Broadbent lebte und befand sich in diesem Moment auf der Flucht. Um wieder klar denken zu können, schüttelte Ha u ser in plötzlicher Wut den Kopf. Was war los mit ihm, ve r dammt? Er hatte sich blenden lassen. Sein Herumgehocke hatte den Broadbents mindestens einen dreiminütigen Vo r sprung verschafft.
Hauser schulterte rasch die Steyr AUG, machte einen Schritt nach vorn und blieb wieder stehen.
Auf dem Boden war Blut. Der Fleck war unübersehbar und so groß wie ein halber Dollar. Nicht weit von ihm en t fernt sah er einen ebenso großen zweiten. Hauser stel l te fest, dass er langsam ruhiger wurde. Benötigte er womö g lich eine Bestätigung, dass Broadbents angeblicher Geist echtes Blut verströmte? Er hatte ihn also doch g e troffen. Vielleicht auch einen der anderen? Streifschüsse aus einer Steyr AUG waren nicht von Pappe. Hauser gönnte sich e i nen Augenblick, um das Spritzmuster zu an a lysieren, die Menge des Blutes, die Flugbahn. Die Wunde war keine Kleinigkeit. Insgesamt lag der Vorteil noch immer auf se i ner Seite.
Er schaute zu der Steintreppe hinauf, dann lief er los, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Er wollte ihre Fährte aufnehmen. Er würde sie aufspüren und u m bringen.
73
Während die Schüsse noch in den fernen Bergen widerhallten, hetzten sie die Tre p pen durch die Felsen hinauf. Als sie den Pfad auf dem Klippengipfel erreichten, li e fen sie auf die grüne Wand aus Lianen- und Kletterpflanzen zu, die die Ruinen der Brustwehr der Weißen Stadt überw u cherten. In ihrem Deckung bietenden Schatten sah Tom se i nen Vater straucheln. Ein dünner Blutfaden lief an seinem Bein herab.
»Wartet! Vater ist verletzt!«
»Es ist nichts.« Broadbent stolperte erneut und stöhnte auf.
Vor der Mauer hielten sie kurz an.
»Lasst mich in Ruhe!«, brüllte der alte Mann.
Tom scherte sich nicht um ihn. Er wischte ihm das Blut von der Wunde ab, untersuchte sie und lokalisierte die Ste l len, wo die Kugel ein- und ausgetreten war. Sie
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