Der Codex
Meambar-Sumpf.«
»Und dahinter?«
Der Mann winkte ab. »Sie werden den Meambar-Sumpf ja wohl nicht durchqueren wollen ...«
»Ganz im Gegenteil«, sagte der Lehrer. »Es ist sogar sehr gut möglich, dass wir das tun.«
Der Mann neigte den Kopf, als sei es eine seiner leicht e sten Übungen, sich mit verrückten Amerikanern a b zugeben. »Wie Sie wollen. Hinter den Sümpfen sind nur noch Berge. Dann brauchen Sie Nahrung und Ausrüstung für minde s tens einen Monat.«
In dem getünchten Raum summte eine Wespe. Sie flog gegen die gesplitterte Fensterscheibe, prallte ab und machte einen neuen Versuch, ins Freie zu gelangen. Der Mann schwang die Fliegenklatsche und erledigte sie mit einer geschickten Bewegung. Die Wespe fiel zuckend zu Boden und stach sich in ihrem Schmerz selbst. Ein polierter Schuh kam unter dem Schreibtisch hervor und zermalmte sie zu Mus.
»Manuel, hol Ramón.« Der Mann wandte sich dem Lehrer zu. »Wir können Sie mit allem ausrüsten, was Sie brauchen, Señor. Zelte, Schlafsäcke, Moskitonetze, Benzin, Nahrung, GPS, Jagdausrüstung - alles, was Sie benötigen. Sie können mit Ihrer Kreditkarte zahlen.« Er legte seine Hand ehrfürchtig auf einen nagelneuen Kreditkartenautomaten, der mit einem winzigen Wandstecker verbunden war. »Sie bra u chen sich um nichts Sorgen zu machen. Wir kümmern uns um alles. Wir sind ein modernes Unternehmen.« Er läche l te. »Wir sorgen dafür, dass Sie Ihr Abenteuer kriegen - aber nicht zu viel davon.«
12
Der Wagen schnurrte durch die im San-Juan-Becken liegende Wüste nach Norden, der Grenze Utahs entgegen, über einen gewaltigen, einsamen Highway, der sich zw i schen endlosen Prärien aus Salbeigestrüpp und Chamisa dahinzog. In der Ferne türmte sich Felsgestein und ragte finster in den blauen Himmel. Tom, der am Steuer saß, empfand große Erleichterung, weil es vorbei war. Er hatte sein Versprechen gehalten und Sally geholfen, in Erfahrung zu bringen, wohin sein Vater verschwunden war. Was sie jetzt tat, war allein ihre Sache. Sie konnte entweder warten, bis seine Brüder mit dem Codex aus dem Dschungel z u rückkehrten - vorausgesetzt, sie fanden die Grabkammer überhaupt -, oder den Versuch machen, sie einzuholen. Er jedenfalls war jetzt aus dem Spiel. Er konnte sein friedl i ches, einfaches Leben in der Wüste wieder aufnehmen.
Tom warf einen verstohlenen Blick auf den Beifahrersitz, den Sally eingenommen hatte. In der letzten Stunde hatte sie kein Wort von sich gegeben. Sie hatte auch nicht gesagt, welche Pläne sie hatte, und Tom wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Er wollte nur zu seinen Pferden zurüc k kehren, in die Routine seiner Praxis, in sein kühles Adob e haus im Schatten der Pappeln. Er hatte sich abgerackert, um das anspruchslose Leben führen zu können, das er hatte führen wollen, und er war entschlossener denn je, es sich von seinem Vater und seinen verrückten Intrigen nicht ze r stören zu lassen.
Sollten seine Brüder ihr Abenteuer doch erleben, wenn sie wollten. Seinetwegen konnten sie das Erbe sogar behalten. Er musste niemandem etwas beweisen. Nach Sarah wollte er nicht mehr ins kalte Wasser springen.
»Er ist also nach Honduras gereist«, bemerkte Sally. »Sagt Ihnen das nicht, wo er sich aufhalten könnte?«
»Ich habe alles erzählt, was ich weiß, Sally. Er hat vor vierzig Jahren mit seinem alten Partner Marcus Hauser einige Zeit in Honduras verbracht. Sie haben Gräber gesucht und Bananen gepflückt, um Geld zu verdienen. Wie ich gehört habe, hat man sie reingelegt und ihnen irgendeine gefälsc h te Schatzkarte angedreht. Sie sind Monate durch den Dschungel marschiert und fast draufgegangen. Dann haben sie sich wegen irgendwas verkracht, und damit war die S a che zu Ende.«
»Aber Sie wissen genau, dass er nichts gefunden hat?«
»Das hat er jedenfalls immer behauptet. Die Berge im Süden von Honduras waren unbewohnt.«
Sally nickte. Ihr Blick richtete sich nach vorn, in die leere Wüste hinein.
»Was also werden Sie tun?«, fragte Tom schließlich.
»Ich reise nach Honduras.«
»Ganz allein?«
»Warum nicht?«
Tom sagte nichts. Es war ihre Sache.
»Hatte Ihr Vater je Ärger wegen seiner Grabräuberei?«
»Ab und an hatte das FBI ein Auge auf ihn. Man konnte ihm aber nichts anhängen. Mein Vater war einfach zu gerissen. Ich weiß noch, wie das FBI unser Haus mal auf den Kopf gestellt und ein paar Jadefigürchen beschlagnahmt hat. Er hatte sie gerade aus Mexiko mitgebracht. Ich war damals zehn,
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