Der Codex
zum ersten Mal begegnet sind. Es war beim wöchentlichen Fakultätsbesäufnis. Ich hatte geglaubt, er wäre einer der üblichen Akademikertypen, aber ... Mann! Er sieht aus wie Tom Cruise.«
»Mann.«
»Natürlich ist ihm sein Aussehen völlig gleichgültig. Für Julian zählt nur der Geist - nicht der Körper.«
»Aha.« Tom konnte nicht anders. Er musste Sallys Körper anschauen. Ihr Äußeres war der Beweis, dass Julians reine Intellektualität eine Lüge war. Julian war ein Mann wie j e der andere auch - nur wohl weniger aufrichtig als die me i sten.
»Er hat kürzlich ein Buch veröffentlicht: Die Entschlüsselung der Maya-Sprache. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Genie.«
»Haben Sie den Tag Ihrer Hochzeit schon festgelegt?«
»Julian hält nichts von Hochzeiten. Wir gehen zu einem Friedensrichter.«
»Was ist mit Ihren Eltern? Werden die nicht enttäuscht sein?«
»Ich habe keine Eltern.«
Tom spürte, wie er errötete. »Tut mir Leid.«
»Braucht Ihnen nicht Leid zu tun«, sagte Sally. »Mein Vater starb, als ich elf war, und meine Mutter ist vor zehn Jahren verstorben. Ich habe mich daran gewöhnt - das heißt, so weit man sich an so was eben gewöhnen kann.«
»Dann wollen Sie diesen Burschen also wirklich heir a ten?«
Sally schaute ihn an. Eine kurze Stille entstand. »Was soll das heißen?«
»Nichts.« Wechsle das Thema, Tom. »Erzählen Sie mir was über Ihren Vater.«
»Er war Cowboy.«
Yeah, genau, dachte Tom. Wahrscheinlich so ein reicher Co w boy, der Kennpferde gezüchtet hat. »Ich wusste nicht, dass es diese Spezies noch gibt«, sagte er höflich.
»Es gibt sie noch. Nur machen sie nicht das, was man aus Filmen kennt. Echte Cowboys sind Arbeiter, die nur zufä l lig auf einem Pferderücken sitzen. Sie kriegen kaum mehr als den Mindestlohn und haben keine höhere Schulbildung. Dafür haben sie ein Alkoholproblem und erleiden in der Regel vor dem vierzigsten Geburtstag eine schwere Verle t zung oder sterben. Mein Vater war Vormann auf einer Ri n derranch im Süden von Arizona, die einem Großunterne h men gehört. Er ist bei Reparaturarbeiten von einer Win d mühle gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Man hätte ihn nicht beauftragen dürfen, da raufzuklettern, aber der Richter hat entschieden, dass es seine eigene Schuld war, weil er getrunken hatte.«
»Tut mir Leid. Ich wollte nicht herumschnüffeln.«
»Es ist gut, wenn man darüber redet. Sagt zumindest mein Psychotherapeut.«
Tom wusste nicht genau, ob dies witzig oder ehrlich gemeint war, aber er beschloss, auf Nummer sicher zu gehen. Vermutlich gingen die meisten Menschen in New Haven zu einem Psychotherapeuten. »Ich hatte mir vorgestellt, Ihr Vater besäße eine eigene Ranch.«
»Haben Sie mich etwa für ein reiches Töchterchen gehalten?«
Tom errötete. »Tja, irgendwie wohl schon. Immerhin studieren Sie ja in Yale ... Und so wie Sie reiten können ...« Er dachte an Sarah. Er hatte für den Rest seines Lebens genug von reichen Töchtern. Und nun hatte er auch Sally dafür gehalten.
Sally lachte, aber es klang verbittert. »Ich hab um jede Kleinigkeit, die ich besitze, kämpfen müssen. Und das schließt Yale mit ein.«
Tom spürte, dass er noch mehr errötete. Er war völlig auf dem falschen Dampfer gewesen. Sally glich Sarah nicht im Geringsten.
»Trotz dieser Unzulänglichkeiten«, fuhr Sally fort, »war mein Vater ein wunderbarer Mensch. Er hat mir das Reiten und Schießen beigebracht und mir gezeigt, wie man mit Rindern richtig umgeht. Nach seinem Tod ist Mutter mit uns nach Boston gezogen, wo ihre Schwester lebte. Sie hat als Kellnerin im Red Lobster gearbeitet, um mich durchz u bringen. Ich ging aufs Framingham State College, weil es das einzige war, das ich nach meiner ziemlich miesen Gymnasialbildung besuchen konnte. Als ich im College war, starb meine Mutter. An einem Aneurysma. Es kam sehr plötzlich. Für mich war es fast das Ende der Welt. Und dann ist doch noch etwas Gutes passiert. Ich hatte eine A n thropologielehrerin, die mir zu entdecken half, dass Lernen Spaß macht und ich nicht nur eine blöde Blondine bin. Sie glaubte an mich. Sie wollte, dass ich meinen Doktor mache. Ich war fast so weit, aber dann entwickelte ich Int e resse an pharmazeutischer Biologie, und so bin ich bei der Enthnopharmakologie gelandet. Ich hab mich halb tot g e schuftet, um in Yale meinen Doktor zu machen. Und dort habe ich Julian kennen gelernt. Ich werde nie den Tag ve r gessen, an dem ich ihn zum
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