Der Codex
ersten Mal sah. Es war auf e i ner Sherry-Party der Fakultät. Er stand mitten im Raum und erzählte eine Geschichte. Julian kann wunderbar G e schichten erzählen. Ich habe mich nur zu der Menge gesellt und zugehört. Er sprach über seine erste Reise nach Copán. Er sah so ... schneidig aus. Genau wie ein Forscher aus den alten Zeiten.«
»Sicher«, sagte Tom. »Klar.«
»Und was ist mit Ihrer Kindheit?«, fragte Sally. »Wie war die?«
»Ich würde lieber nicht darüber reden.«
»Das ist aber ungerecht, Tom.«
Tom seufzte. »Ich hatte eine langweilige Kindheit.«
»Lassen Sie mich das beurteilen.«
»Wo soll ich anfangen? Wir wurden sozusagen in einem Schloss geboren. In einem riesigen Anwesen mit Schwimmbecken, Gärtner, einer im Haus wohnenden Köchin, Sta l lungen und fünfhundert Hektar Grund. Unser Vater hat uns mit allem überschüttet. Er hatte viel mit uns vor. Er hatte ein ganzes Regal voller Bücher über Kindererziehung und sie auch alle gelesen. In jedem stand das Gleiche: Fang mit den höchsten Erwartungen an. Als wir Säuglinge waren, spielte er uns Bach und Mozart vor und pflasterte unsere Zimmerwände mit Gemälden alter Meister. Als wir Lesen lernten, wimmelte es im ganzen Haus von Etiketten, auf denen alles Mögliche stand. Wenn ich morgens aufstand, sah ich als Erstes Schildchen mit Aufschriften wie ZAHNBÜRSTE, WASSERHAHN und SPIEGEL. Sie star r ten mich aus jeder Zimmerecke an. Mit sieben sollte jeder von uns sich ein Musikinstrument aussuchen. Ich hätte gern Schlagzeug gespielt, aber mein Vater bestand auf etwas Klassischem. Also lernte ich Klavier. Einmal pro W o che >Country Gardens< bei der schrillen Miss Greer. Ve r non lernte Oboe. Philip musste Violine spielen. Sonntags gingen wir nicht zur Kirche - unser Vater war Atheist -, sondern zogen uns schnieke an und spielten ihm etwas vor.«
»Oh, Gott.«
»Oh, Gott ist richtig. Beim Sport lief es auch so. Jeder von uns musste sich eine Sportart aussuchen. Aber nicht zum Spaß oder zur Leibesertüchtigung, sondern um uns auszuzeichnen. Wir wurden in die besten Privatschulen gesteckt. Jede Minute des Tages unterlag einem Terminplan: Reitu n terricht, Tutoren, private Sportlehrer für Fußball und Te n nis, Computerkurse. Und zu Weihnachten Skireisen nach Taos oder Cortina d'Ampezzo.«
»Wie grässlich. Und wie war Ihre Mutter?«
»Wir hatten drei Mütter. Wir sind Halbbrüder. In der Liebe hatte unser Vater sozusagen Pech.«
»Und er hat das Sorgerecht für alle drei Kinder bekommen?«
»Was Max haben will, kriegt er auch. Es waren keine netten Scheidungen. Unsere Mütter waren kein bedeutender Bestandteil unseres Lebens. Meine starb schon, als ich noch klein war. Vater wollte uns selbst aufziehen. Er wollte nicht, dass sich jemand einmischt. Er wollte drei Genies erscha f fen, die die Welt verändern sollten. Er wollte unsere Berufe aussuchen. Sogar unsere Freundinnen.«
»Tut mir Leid. Was für eine grauenhafte Kindheit.«
Tom wechselte die Stellung in der Hängematte. Sallys Kommentar verärgerte ihn irgendwie. »Ich würde Cortina zur Weihnachtszeit nicht grauenhaft nennen. Irgendwie hat es uns allen doch was gebracht. Ich habe gelernt, Pferde zu mögen. Philip hat sich in die Gemälde der Renaissance ve r liebt. Und Vernon - tja, er hat sich irgendwie darin verliebt, heute hier und morgen da zu sein.«
»Er hat also Ihre Freundinnen ausgesucht?«
Tom wünschte sich, er wäre weniger deutlich gewesen. »Er hat's versucht.«
»Und?«
Tom merkte, wie er errötete. Er konnte nichts dagegen tun. Die Erinnerung an Sarah - die vollkommene, schöne, intelligente, begabte und reiche Sarah - stürmte einfach auf ihn ein.
»Wer war sie?«, fragte Sally.
Frauen wussten offenbar immer alles. »Nur ein Mädchen, das mein Vater mir vorstellte. Die Tochter eines Freundes. Es war - welch eine Ironie - das einzige Mal, dass ich wir k lich etwas wollte, das auch er wollte. Ich bin mit ihr ausg e gangen. Wir haben uns verlobt.«
»Und dann?«
Tom schaute Sally intensiv an. Sie wirkte mehr als neugierig. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. »Hat nicht geklappt.« Dass er sie eines Abends auf einem Kerl reitend in ihrem gemeinsamen Bett überrascht hatte, verschwieg er lieber. Sarah kriegte, was sie haben wollte. Das Leben ist zu kurz, hatte sie gesagt, und ich möchte nun mal alle seine Aspekte kennen lernen. Was ist daran falsch? Sie konnte sich eben nichts versagen.
Sally schaute ihn noch immer neugierig an. Dann schütte l
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